Mittwoch, 22. Oktober 2025

Kinder an die Macht

Lieber Herbert [Grönemeyer], ich glaube, wir müssen mal über deinen Aufruf „Kinder an die Macht!“ sprechen. Im Sinne lieblicher Zartheit, friedlichem Umgang miteinander und dem Glauben, dass sie nicht berechnend agieren, möchte ich dir vehement widersprechen.

Kinder an die Macht
Wer Kinder hat oder sie im Spiel beobachtet, der kennt den zunächst ziemlich ungestümen Umgang, wenig sozial orientiert, stark fixiert an den unentbehrlichen Bezugspersonen. Einfügen in soziale Strukturen, Gemeinschaften, Nachgeben und Kompromisse sind in der Wiege wenig bis gar nicht vorhanden.

Das ändert sich dann im Laufe der Entwicklung, der unvermeidlichen Kontakte mit anderen Kindern in der Familie, im Kindergarten, der Schule. Und hier prägt sich dann das individuelle Erfolgsrezept aus. Ist es körperlich orientiert, emotional betont oder basiert es auf der Bildung von Seilschaften und Netzwerken?

Schon in jungen Jahren probieren Kinder aus, womit sie ihr Ziel am besten erreichen, wie sie Mitmenschen gefügig machen oder für das eigene Fortkommen einsetzen können. Sind Tränen das Mittel der Wahl oder Erpressung, zieht Einschmeicheln oder motiviert man über eine dritte Person?

All das wird im Laufe der Jahre weiter verfeinert, mit der Zeit immer verdeckter ausgespielt und mit ablenkendem Zierrat versehen. Doch im Kern bleibt das Vorgehen für die Zielerreichung ein Leben lang erhalten und wird höchstens modifiziert, niemals komplett geändert.

Was ebenfalls in kleinsten Kindern vorhanden ist, ist ihre Neugierde. Sie wollen, nein sie müssen die Welt um sich herum erkunden. Das ist anthropologisch notwendig, weil ein Mensch in einem ungeformten Zustand auf die Welt kommt und sich dann an seine Umgebung anpasst.

Das sind einerseits Basisqualitäten wie der aufrechte Gang, aber auch kulturelle Aspekte wie das Verhalten in Gemeinschaften, kommunikative Strukturen wie Ausdruck und Sprache. Hier heißt es schnell sein, denn je zügiger diese Anpassung stattfindet, desto harmonischer ist das Zusammenspiel mit dem Umfeld.

In diesem Zusammenhang geht allerdings prozessbedingt auch ein Teil der Offenheit verloren. Insbesondere in der Phase bis zur Pubertät werden viele Vorgaben adaptiert, aber nicht in Frage gestellt. Das beschleunigt das Lernen, sorgt aber gleichzeitig für eine Einengung des Horizontes.

Was die Eltern sagen oder was der Lehrer erläutert, ist a priori richtig. Nicht nur, dass hierdurch das Wissen erweitert wird, es wird auch vernetzt und dadurch zunehmend komplexer. Die sprichwörtliche kindliche Naivität weicht einer gebildeten Wissensbasis.

Sie türmt sich auf und wächst immer weiter, bleibt der Kern vielleicht noch überschaubar, sind spätestens die Ränder eine Überlastung für menschliche Denkmöglichkeiten. 

Und an genau dieser Stelle gebe ich Herbert dann doch wieder Recht. „Kinder an die Macht!“ könnte heißen, wieder mit dem unvoreingenommenen Blick auf Dinge zu schauen. Entscheidungen einfach mal zu treffen, herumzutorkeln, bis man den Gleichgewichtssinn ausgebildet und die notwendigen Muskeln trainiert hat.

Alle gesunden Kinder lernen laufen, manche haben den Bogen schon nach einem Jahr heraus, andere brauchen etwas länger. Aber früher oder später stehen sie auf ihren Beinchen, wackeln durch die Wohnung und können sich einige Jahre später nicht mehr daran erinnern, wieviel Hartnäckigkeit und wieviele Fehlversuche hierfür notwendig waren.

„Kinder an die Macht!“ als offen, neugierig, trotz Hinfallen dranbleiben. Wieder und wieder, zwischendurch mal weinen, sei es aus Schmerz oder aus Wut. Und nie aufhören, die Komplexität der Technik, der Gesellschaft, der Partnerschaft oder der eigenen Psyche in Frage zu stellen.

Ich bezeichne das als die Herausforderung, in noch so komplexen Systemen den höchstens noch komplizierten Kern zu entdecken. Was eine Kernkompetenz von Kindern ist.

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