Meine Hände werden langsam kalt. Mit Elan war ich heute Morgen aus dem Bett, ins Bad, die Küche, zum Auto gelaufen und hatte einen guten Parkplatz am Bahnhof erwischt. Der Tag war mein Freund, alles bestens. Dass der geplante Zug ausfiel und der nachfolgende Zug Verspätung haben sollte konnte meine Laune nicht wirklich herunterreißen. Es war auch noch erträglich, als der nachfolgende Zug anstelle der Verspätung abgesagt wurde: Störung am Triebkopf.
Die zweite Alternative fiel dann auch aus, mittlerweile saß ich eine halbe Stunde am Bahnhof. Immerhin hatte ich einen der wenigen Sitzplätze im zugigen Wartehäuschen ergattert. Einsetzender Nieselregen trieb die anderen Wartenden ebenfalls in das Häuschen, hier konnten wir der Absage des nächsten Zuges lauschen. Und so ging es weiter. Züge, die eben noch als pünktlich angezeigt wurden hatten erst mal Verspätung, verschwanden dann komplett von der Anzeigetafel oder wurden als Verbindungsausfall aufgeführt.
Salamitaktik mit phantasievollen Begründungen für den lahmgelegten Verkehr. Inzwischen hat der Bahnhof seit knapp anderthalb Stunden keinen Zug mehr gesehen. Und jetzt das Highlight für das frierende menschliche Transportgut: "Verspätung aus vorausgehender Fahrt." Welche vorausgehende Fahrt kann denn gemeint sein? Hier fährt nichts, was den Ablauf stören könnte. Wer wirft denn die Kugel ins Ausreden-Roulette?
Vermutlich hat die Bahn Geld dafür ausgegeben, sich von einer teuren Beratungsfirma Tipps für den Umgang mit Verspätungssituationen geben zu lassen. Ganz oben an der Oberfläche schlagen die Verspätungen und Zugausfälle zu den Reisenden durch. Das ist sozusagen der Husten, der uns in der Erkältungswelle erfasst. Da kann man dann sagen "Husten Sie bitte in eine andere Richtung." Die Bahn bietet Durchsagen mit Begründungen aus einem Pool verschiedener Formulierungen.
Jetzt könnte man natürlich auch Hustenstiller oder -löser nehmen. Also etwas gegen die Symptome machen. Die Verspätung wird damit zwar nicht geändert, aber immerhin kann man das Warten erträglicher machen. Heiße Getränke, ein zugfreier und beheizter Wartebereich könnte die Situation ein wenig entspannen. Oder man bekämpft die Erkältung, so dass der Husten verschwindet, an die Stelle einer Symptombekämpfung tritt die Ursachenbearbeitung.
Ein Ersatzzug, Ersatzverkehr, Zusatzangebote und Umleitungen haben das Potential, eine auftretende Störung für die Reisenden unsichtbar zu machen. Während der Körper sich regeneriert, werden die wesentlichen Funktionen aufrechterhalten. Wir fühlen uns ein wenig angeschlagen, aber eigentlich geht es uns noch ganz gut.
Und schließlich die Königsdisziplin: Vorbeugen. Was dem Körper sein Saunabesuch, seine gesunder Ernährung und die Wahl geeigneter Kleidung ist, das könnten bei der Bahn ausreichende Reserven, Notfallpläne und die Bereithaltung von Alternativen sein. Und so wie ein Körper von Natur aus auf Infektionen bis zu einem gewissen Grad gerüstet ist, so müssen auch hier der Fahrplan und damit zusammenhängende Prozesse resilient gestaltet werden. Pannen und Störungen gehören zum Alltag und müssen aus der Rubrik "Ausnahmezustand" in die Rubrik "Alternativzustand" überführt werden.
Das erfordert ein wenig Phantasie, aber der Körper macht es uns vor. Elemente wie ein Immunsystem, ausgefuchste Reparaturmechanismen und eine beeindruckende Vielfalt von Backupsystemen sind ein Vorbild für alle technischen Abläufe und Prozesse. Damit es nicht bei gutgemeinten Fahrgastberuhigungsansagen bleiben muss.
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