Jung, wie schnell bist Du? – 60.
Bremsweg? – 36 Meter.
Wie schnell darfste hier? – Ähm… 90.
Bremsweg? – 81 Meter.
Wieso soviel mehr? Das ist doch nur die Hälfte schneller. – Weil es quadratisch gerechnet wird und neben dem Quadrat der Differenz noch ein Mischterm dazukommt.
Jetzt hatte ich Ruhe, das war meinem Fahrlehrer deutlich zu mathematisch. Er hatte einfach keine Lust, sich mit einem Abiturienten über binomische Formeln zu unterhalten. Also bekam ich den Rest der Fahrstunde einen Vortrag über ein todsicheres Verfahren, um im Lotto zu gewinnen. Warum er bislang noch nicht wirklich abgeräumt hatte, konnte er mir allerdings nicht sagen.
Aber schauen wir doch mal, was bei der Frage nach dem Bremsweg mathematisch passiert ist. Dummerweise arbeitet unser Gehirn von Natur aus linear, es extrapoliert also mit einem einfachen Faktor; Hochrechnung mit Potenzen ist nicht vorgesehen. Entsprechend erwarten wir spontan, dass bei einer um die Hälfte höheren Geschwindigkeit auch der Bremsweg um die Hälfte länger wird.
Und selbst wenn jemand den Begriff „Quadrat“ ins Spiel bringt, kommen wir meist im ersten Wurf nur auf einen Teil der richtigen Lösung. Dann rechnen wir mit 6*6 = 36 (für die Quadratur der 60 Stundenkilometer) plus 3*3 = 9 (für die Erhöhung um 30 Stundenkilometer), also in Summe als Bremsweg 45 Meter, ziemlich moderate Steigerung gegenüber der Strecke bei 60 Stundenkilometer.
Es fehlt nur zu unserer Schande dieser harmlos scheinende Mittelteil der binomischen Formel. Nichts quadratisch, nur ein Produkt. Aber das hat es in diesem Fall in sich: 2*6*3 = 36 Meter! Aus den „gefühlten“ 9 Metern mehr werden dadurch in der Praxis glatt 45 Meter!
Nun schreibe ich das nicht, um eine längst vergessene Stunde der Mittelstufen-Mathe zu wiederholen. Ich komme darauf, weil es ein anschauliches Beispiel dafür ist, wie einen das mathematische Gefühl im Alltag in die Irre führen kann. Selbstverständlich gilt diese Diskrepanz nämlich nicht nur für Bremswege, sondern schlicht für alle Vorgänge und Messungen, welche nichtlinear von ihrer Ordinate abhängen. Und das sind erstaunlich viele – um nicht zu sagen: fast alle.
Schlussfolgerung: Echtes Gefühl für Zahlen kann man nicht mal so eben aus dem angeborenen Schatzkästchen entwickeln. Vielmehr braucht man dafür ebenso ausführliche Beschäftigung wie bei den emotionalen Beziehungen zu seinen Mitmenschen. Da erwartet man ja auch nicht, dass jede Reaktion genau linear mit dem Auslöser skaliert.
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