Mittwoch, 13. Januar 2021

Bei komplexen Systemen gibt es keine „Best practice“

Ich berichte heute von einem typischen Fall, in dem unser Gehirn völlig hilflos agiert, uns aber gleichzeitig vorgaukelt, alles im Griff zu haben. Die psychologische Literatur ist voll davon. Beispiele hierfür kennen wir unter anderem von optischen Täuschungen, Erinnerungen (Zeugenaussagen) oder eben komplexen Systemen.

Zur kurzen Wiederholung: Komplexe Systeme sind bei mir Betrachtungsobjekte mit mehreren (meist nichtlinearen) Einflussfaktoren, welche mit verschiedenen Gewichtungen eingehen, dabei Rückkopplungen kennen und zum Teil selbst untereinander verbunden sind. Kurz: Das ganze Gespinst ist selbst für Experten nicht geschlossen darstellbar, eine Vorhersage der Systemreaktion bei Veränderungen ist nicht nach dem Wenn-Dann-Prinzip möglich.

Soweit sicher nicht überraschend, dass auch die aktuelle Pandemie zu den komplexen Systemen gehört. Und damit auch nicht überraschend, dass es selbst Experten nicht gelingen kann, zuverlässige Vorhersagen zu treffen. Was aber andererseits auch auf der Hand liegt: Gute Erfahrungen in irgendeiner Phase der Pandemie lassen sich nicht unbedingt als „Best Practice“ wiederholen. Hat der Lock-down in der ersten Welle ein zufriedenstellendes Ergebnis beschert, dann neigt der Mensch dazu, genau diese Maßnahme zu wiederholen – sie hat ja schon einmal geholfen. Nur haben sich allerlei Systemparameter mittlerweile verändert. Es ist eine andere Jahreszeit mit gewissen Auswirkungen und die Menschen sind müde von den Vorgaben, um mal zwei Punkte herauszugreifen. Und deshalb ist es zwar menschlich, auf die zweite Welle wieder mit einem Lock-down zu reagieren, aber systemimmanent leider kaum zu erwarten, dass er einen vergleichbar positiven Effekt bringt.

So traurig es auch klingen mag. Der zweite Lock-down läuft ins Leere, die Wiederholung oder auch Verschärfung (viel hilft viel) führt nur sehr bedingt zum Ziel. Dem „gesunden Menschenverstand“ dürfen wir hier nicht glauben. Vielmehr sind Experten für den Umgang mit komplexen Systemen die notwendigen Fachleute der Stunde, als Modell bietet sich das Cynefin-Framework (Umgang mit komplexen sozialen Systemen) an.

Damit es nicht zu akademisch bleibt. Praktische Anwender dieser Erkenntnisse sind zum Beispiel Feuerwehrleute, die haben es bei Einsätzen auch mit komplexen Systemen zu tun. Eine gewisse Analogie erkennt man im Entstehen einer Pandemie, ihrem „Löschen“ und dem Wiederaufflammen (zweite Welle). Unsere Feuerbekämpfer kennen das, und wissen auch, wieso es eine Brandwache gibt und wie mit Glutnestern umzugehen ist.

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2 Kommentare:

  1. Im Sinne des Cynefin-Frameworks wäre noch zu fragen, was können wir jetzt noch probieren? WOFÜR haben wir noch stimmige Annahmen von Experten, guten Beobachtern oder durch Erfahrungen in anderen Ländern. Weiter lässt sich fragen: Nutzen wir den Förderalismus schon genug? Die Tatsache, dass verschiedene Bundesländer eigentlich verschiedene Lösungen wünschen, könnten wir noch intensiver nutzen, um eine Art "Best Practice" schneller zu finden. Wenn verschiedene Bundesländer 2-3 Wochen verschiedene Lockdown-Arten ganz gezielt und zentral konzertiert und gemonitort angehen, wüssten wir sehr schnell, welche Variante am stärksten wirkt und wir bräuchten keine langen "Wer hat recht" Debatten im Vorhinein. Die Wirkung würde am Ende jeden überzeugen...na ja vielleicht auch da nicht jeden.

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