Mittwoch, 17. November 2021

Leben im Kleeblatt (1)

Wäre ich ein Kaninchen, würde ich vielleicht in einem Kleeblatt leben. Ein großes Autobahnkreuz, in den Straßenbögen Grünflächen. Meine Heimat. Ich wäre dort geboren, hätte meine Höhle und meine durch die Jahreszeiten wechselnden Malzeiten. Ich hätte Nachbarn, andere Kaninchen, die auf dieser von Autostraßen begrenzten Fläche leben. Vielleicht auch andere Tiere, die entweder hier heimisch sind oder die Straße überquerend temporär in meinem Lebensraum vorbeischauen.

Die Fläche, auf der ich herumhoppelte wäre recht begrenzt, aber sie reichte mir für mein Leben. Ich hätte alles, was ich brauche, würde sicher auch eine Partnerin finden und für Nachwuchs sorgen. Die Grenzen wären spürbar, aber nicht wirklich hinderlich. Oder das Kleeblatt so groß, dass ich die Straßen gar nicht wahrnehme, vielleicht gibt es nach einiger Hoppelei ein Ende, was ich aber nie merkte.

Aber so oder so gäbe es eine Welt jenseits der Straße. Eine große Welt sogar, nur dass ich diese nie erlebte. Entweder, weil mir gar nicht klar würde, dass es etwas außerhalb des Kleeblattes gibt, oder weil sie mir völlig fremd wäre. Für meine Sprünge und kleinen Lüste wäre ich ja versorgt und der positive Effekt, dass auch Feinde eher selten über die Straße in mein Revier eindringen.

Geradezu philosophisch, lebe ich doch auch in meinem Menschen-Kleeblatt. Und die begrenzenden Straßen sind in meinem Leben möglicherweise Landesgrenzen. Aber viel eher sind es die Schichten, zum Beispiel der Bildung oder des Wohlstandes. Als Abstinenzler habe ich keinen Kontakt zu Alkoholikern, als Angestellter scheinen Selbständige fremd. Oder ich habe als Hundebesitzer kein Verständnis für Hundegegner, Nichtraucher stehen höchst selten mit Rauchern zusammen.

Zentral also das Verständnis, dass jeder von uns in einer Schnittmenge gewisser sozialer Strukturen lebt, andere Gesellschaften gar nicht oder nur peripher kennen lernt. Es ist sozusagen ein eigener Kosmos. Und ich lade ein, gelegentlich vergleichbar einem Urlaub, in dem man fremde Länder kennenlernt, auch die Gestirne seiner Mitmenschen zu erforschen: Ganz vorsichtig die das eigene Kleeblatt begrenzenden Straßen überqueren.

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