Früher war meine Welt einfach. Männer hatten Probleme mit
ausfallenden Haaren, Frauen mit ihrem Wunschgewicht. Für beide Felder gibt es kein
zuverlässiges Mittel und entsprechend entsteht ein unübersehbarer Markt an
Wundermitteln, Versprechen und guten Ratschlägen.
Doch heute weiß ich, dass auch Führung so ein Thema ist. Die
Bretter der Bücherschränke biegen sich unter der Last der Ratgeber, danach zu
urteilen müssten wir ein Volk von professionellen Führungskräften sein. Doch
weit gefehlt. Es wird zwar geführt, was das Zeug hält, aber eben nur dieses.
Woran liegt das? Nicht wenige Menschen assoziieren Führung
mit Macht; Wer eine Führungsposition innehat, der hat Einfluss auf Mitmenschen,
der kann deren Handlungen bestimmen. Und das reizt zahlreiche Zeitgenossen.
Wobei sie allerdings oft übersehen, dass es Führung auch als Tu-Wort gibt
(führen), Macht jedoch nicht. Vielmehr kann man zwar Macht haben, man muss sie aber nicht ausüben.
Tut man dies, so kommt man unweigerlich zu Dominanz oder gar Zwang. Sehr
bildlich hat das Antoine de Saint-Exupery formuliert:
„Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer
zusammen um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit
einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen
Meer.“ Das bedeutet Dominanz durch inneres Abholen und geistiges Mitnehmen zu
ersetzen.
Wir waren zu nachtschlafender Zeit aufgebrochen, kräftiges Schuhwerk, einen Rucksack mit Essen, Trinken, einem Schlafsack und Zelt. Links und rechts Wanderstöcke, eine kleine Gruppe waren wir, die zur Berghütte kraxeln wollten. Gestern Abend hatten wir noch mal in die Karten geschaut, den Wetterbericht studiert und das Gepäck kontrolliert. Jetzt also hier, vor uns Toni (er hieß wirklich so), gegerbte Haut, stramme Waden, strubbelige Haare und Sonnenbrille: Unser Bergführer. Er nahm jeden von uns ins Visier, langjährige Erfahrung mit Flachlandtirolern. „Pack ma’s“ und los ging es, durch Wiesen und zunächst noch gut ausgeschilderten Wanderwegen folgend. Am Ende des Tales wurde der Weg schmaler, wir stiegen unaufhörlich weiter auf, durch die scharfen Biegungen des Pfades geriet die angepeilte Berghütte immer wieder aus dem Blick. Das scherte Toni nicht, er war den Weg vermutlich schon viele Male mit den unterschiedlichsten Menschen gegangen, trottete geradezu entspannt vor uns her und plapperte munter mit einem älteren Feriengast.
Kurz nach Mittag, wir hatten in einer Schutzhütte Rast gemacht und waren nun wieder auf dem Weg, zog sich der Himmel schlagartig zu. Toni schaute kurz nach oben, nichts deutete darauf hin, dass ihn der Wetterumschwung beunruhigte. „Na, des hamma stets inna Alm“ und weiter ging es. Ich fand die dunklen Wolken schon ein wenig beängstigend, aber Toni strahlte Vertrauen aus und wir trotteten unbeirrt hinter ihm her. Es war bei aller Lässigkeit auch keine Leichtsinnigkeit, wir passierten die nächste Hütte ohne Halt zu machen, obwohl schon ein paar Tropfen herunterkamen. Ein wenig Eile sei geboten, aber kein Grund zur Sorge, noch vor Abend würden wir die Bergstation erreichen und dort dann die langsam ersehnte Pause einlegen. Das war dann auch so.
Toni also als Prototyp des Führers. Jemand, der den Weg kennt, das Ziel vor Augen hat und die Gruppe mitnimmt. Er zwingt sie nicht, sie folgt ihm freiwillig in der Erkenntnis, dass eben dieses Folgen das Beste für sie ist. Dabei kümmert sich Toni nicht nur um die richtige Richtung, mit seiner Risikoeinschätzung sorgt er auch dafür, dass nur relevante Probleme unsere Wanderung und die Tagesplanung beeinflussen. Kleine Störungen wie ein paar Regentropfen ignoriert er.
Und an welcher Stelle hatte er Macht? Im Grunde genommen die ganze Zeit, er hätte die Gruppe auch ins Unheil führen können, dramatisch formuliert lag unser aller Leben in seiner Hand. Im Sinne potentiellen Missbrauchs seines Wissens wäre also leicht eine Ver-Führung möglich gewesen. So eng liegen auch bei Führung Gebrauch und Missbrauch beieinander.
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