Mittwoch, 29. Mai 2024

Hilfe! Mein Gehirn wurde gekapert!

Ich bin schon eine Weile auf der Landstraße unterwegs. Es ist ein bedeckter Tag, überwiegend wolkenverhangen sind nur von Zeit zu Zeit ein paar Sonnenstrahlen zu sehen. Die Strecke führt in weiten Bögen durch die Landschaft, die Fahrt läuft weitgehend unterbewusst; mit rund 80 gleite ich meinem Ziel entgegen. Nur in Ortschaften muss ich natürlich herunterbremsen.

Und bei so einer Gelegenheit geschieht es dann. In Zeitlupentempo biegt ein topmoderner Mercedes in die Hauptstraße ein, platziert sich vor mich und scheint nicht daran zu denken, auf die übliche Geschwindigkeit zu beschleunigen. Auch nach Verlassen der Ortschaft wird das Fahrzeug nur ein bisschen schneller, aber von der problemlos möglichen Geschwindigkeit ist es weit entfernt.

Leider kann ich nicht überholen, die Kurven auf der Strecke sind zu unübersichtlich und ich möchte kein Risiko eingehen. In Gedanken gehe ich den weiteren Weg durch, gibt es da nicht eine längere Gerade, auf der ich mich von diesem lästigen Bremsklotz befreien kann? Oder kann ich zwischendurch abbiegen und komme auf einer Alternativroute schneller ans Ziel? Wacht der Fahrer - es ist bestimmt ein Rentner! - vielleicht irgendwann auf und beschleunigt?

Gehirn wurde gekapert

Meine Gedanken kreisen um das Auto vor mir, die bisher vorherrschende Ruhe ist einer Spannung gewichen. Alles dreht sich um das rollende Hindernis, wie ich es hinter mich bringen und damit meine Anspannung wieder beenden könnte. Dabei habe ich es eigentlich gar nicht eilig und die geringere Geschwindigkeit ist an und für sich gar kein Problem. Aber der Verstand setzt aus, ich will, nein, ich muss diese Schnecke vor mir loswerden. Ich muss! Das Auto ist einfach lästig, lästig, lästig.

Endlich halbwegs freie Strecke und wie fast befürchtet gibt mein Vordermann jetzt Gas. Hier, wo ich endlich überholen könnte flutscht er plötzlich los. Mit Sicherheit macht er das mit Absicht, will mich ärgern, denn vor der nächsten Kurve bremst er wieder ab und schleicht wie vorher. So ein Idiot! Und gegen seinen flotten Benz habe ich auf den kurzen Geraden keine risikofreie Chance.

Kurz vor meinem Ziel biegt er, selbstverständlich bis auf Fußgängergeschwindigkeit abbremsend, mit weitem Bogen in einen Hof ein. Uff, diese Kröte bin ich los. Völlig genervt lege ich noch die letzten Kilometer zurück, parke und trinke erst mal einen Kaffee. Nein, ich habe mir nicht wie sonst üblich ein paar Gedanken zum Tag gemacht, habe nichts gedanklich vorbereitet, bin nicht schon mal im Kopf meinen Terminkalender durchgegangen. 

Tatsächlich, das fällt mir jetzt auf, ist das Fatale gar nicht die kaum nennenswerte Verspätung. Es ist die Tatsache, dass meine gesamte Gedankenwelt nur noch von diesem Auto beherrscht war. Abgesehen von der zweifellos lästigen Situation hätte ich ohne weiteres meine üblichen Überlegungen anstellen können. Habe ich aber nicht, stattdessen habe ich es zugelassen, dass meine Denkressourcen komplett missbraucht wurden. Das war noch nicht einmal Schuld des Autos vor mir, das war lediglich der Auslöser. Die Schuld lag einzig bei mir. Mit konsequentem Management, was mein Gehirn bearbeiten sollte und was nicht, wäre das nicht passiert.

Letztlich neigt man natürlich dazu, sich in irgendetwas hinein ziehen zu lassen, sogar hineinzusteigern. Sobald man das erkennt ist aber beherztes Eingreifen empfehlenswert, Schluss machen mit Überlegungen zu Dingen, die wir in diesem Moment ohnehin nicht ändern können. Die aktuelle Lage als ärgerlich, aber nicht als Nerv-tötend einstufen und dann möglichst gelassen zur üblichen Tagesordnung zurückkehren.

Mittwoch, 22. Mai 2024

Merkt das eigentlich keiner?

Merkt das eigentlich keiner?
Wenn man aufmerksam durch das Leben geht fallen einem immer wieder Formulierungen, Aussagen, ja sogar Werbetexte auf, die knapp daneben oder sogar vollständig misslungen sind. Ein gutes Beispiel sind Plakate oder Zugbeschriftungen der DB. Ein möglicherweise vom ständigen Bahnsteigwechsel genervter Kunde fühlt sich von der Werbung "Wir halten Sie auf dem Laufenden" nicht angesprochen, sondern eher provoziert. Und die Aufschrift "Jetzt ist Zeit zum Surfen" auf einer verspäteten S-Bahn führt auch zu unerwünschten Gedanken.

Es gibt noch viele andere Beispiele, in denen weder die eingerichtete Qualitätssicherung noch die vielbeschworene Schwarmintelligenz vor dergleichen Missgriffen schützt. Da bekommt ein Produkt einen Namen, der in einem (ausländischen) Markt eine negative Bedeutung hat. Ein Verschluss wird so konstruiert, dass er für die Zielgruppe nicht bedienbar ist. Nicht nur Texte, auch Produkte sind also davon betroffen, oft spricht man in diesem Zusammenhang von Fehlkonstruktionen.

Ja, merkt das denn keiner der Werbetexter, Designerstellern oder Qualitätssicherer? Es muss doch irgendeine Person in der zweifellos recht langen Produktionskette geben, dem die Missverständlichkeit auffällt. Der über die Formulierung stolpert oder sie in einem anderen Kontext interpretiert. Der die Wirkung mal mit den Betroffenen bespricht, ehrliches Feedback der Benutzer abfragt.

Vermutlich gibt es verschiedene Faktoren, die zu diesen missratenen Ergebnissen führen. Mal ist es die Arroganz oder Selbstüberschätzung: Der Ersteller ist der Ansicht, dass er seine Kunden wie immer gut bedient. Oder es ist eine Hierarchiestruktur, in der kein ausführender Dienstleister es wagt, seine vom Auftraggeber abweichende Meinung zu äußern: Was hochbezahlte Manager entworfen haben darf ein Sachbearbeiter nicht anrühren. Letztlich kann es auch sein, dass die gesamte Produktion von der Idee bis zur Vollendung im selben Kontext unterwegs ist: Das kann man dann als betriebsblind bezeichnen.

Ohne Zweifel sind Kommunikation, Perspektivwechsel und die Einbeziehung von Fachleuten gute Voraussetzungen, um böse Überraschungen zu vermeiden. Wobei Fachleute in diesem Zusammenhang auch so Exoten wie Commedians oder Kabarettisten sein können.

Mittwoch, 15. Mai 2024

Warum erzählst du mir das?

Im weithin bekannten Kommunikationsmodell von Friedemann Schulz von Thun werden die vier Seiten einer Nachricht in den Mittelpunkt gestellt. Da geht es neben dem Sachinhalt und der Selbstoffenbarung auch um die Beziehungshinweise und den Appell.

Schaue ich in der alltäglichen Praxis auf die Äußerungen meiner Mitmenschen, stellt sich für mich oft die Frage, was sie mir eigentlich sagen wollten. Oder mit welchem Ziel sie mir genau diese Sache erzählen. Verdeckt vom Sachinhalt bleibt unklar, was sie von mir erwarten, ob und wenn ja welche Handlungsaufforderung enthalten ist oder welche Reaktion sie in mir provozieren möchten.

Denn die vier Seiten des Kommunikationsmodells bearbeiten nur die oberste Ebene, sagen wir mal die offensichtlichen Gesichtspunkte. Etwas verborgener sind beispielsweise auch Aspekte der Nachrichtenentstehung von Interesse. Wer hat denn die gerade gehörte Aussage ursprünglich in die Welt gesetzt?

Für Menschen, die wenig naiv sind, stellt sich zudem die Frage, was der Sender mit seiner Mitteilung (und ihrer Formulierung) bei ihnen erreichen will. Mit tiefer gehender Betrachtung kann man versuchen, dem Manipulationsversuch auf die Schliche zu kommen. Wenn jemand mir von dem beeindruckend gepflegten Garten seines Nachbarn erzählt, will er mich vielleicht neidisch machen, möglicherweise aber auch die Qualität meiner gärtnerischen Leistung herabsetzen. Oder schlichtweg neugierig machen, wie denn dieses Kleinod in Grün aussehen mag.

Diese Erweiterung des Vier-Seiten-Modells erzwingt einerseits die Beschäftigung mit dem Sender, andererseits impliziert sie auch die Etablierung eines Vielfältigkeits-Prinzips. Jede Einzelaussage kann ich erst mal nur zur Kenntnis nehmen, da ich weder den Wahrheitsgehalt noch den Grad der Verfärbung durch mein Gegenüber einschätzen kann. Erst durch Ergänzung mit verschiedenen Informanten („da musst du dir auch mal die andere Seite anhören“) wird das Bild sukzessive verlässlicher und die daraus gezogenen Schlüsse werden angemessener.

Warum erzählst du mir das

Ein wenig ist das wie in der Mathematik bei der Bearbeitung von Gleichungen mit mehreren Unbekannten. Damit man im mathematischen Sinne eine eindeutige Lösung angeben kann, sind im Normalfall so viele Gleichungen wie Unbekannte notwendig. Ähnlich verhält es sich hier auch. Je unübersichtlicher eine Situation ist, desto mehr Meinungen muss ich dazu hören. Und mich bei jeder fragen, ob mein Gegenüber mir wissentlich oder unwissentlich etwas unterschiebt, um bei mir eine bestimmte Einstellung zu bewirken.

Mittwoch, 8. Mai 2024

Selbstregulierung

Vorweg: Ich gehe gerne schwimmen, also nicht plantschen, sondern schwimmen. Dabei bin ich kein Wettkampf-Schwimmer, aber ich ziehe schon recht zügig meine Bahnen. Das geht natürlich am besten, wenn um mich herum auch andere Schwimmer unterwegs sind, die im Idealfall etwa mein Tempo haben.

In meinem bevorzugten Hallenbad gibt es sechs abgetrennte Bahnen, und mehr oder weniger automatisch ergibt es sich, dass sich die Badegäste orientiert an ihrer Geschwindigkeit auf die unterschiedlichen Linien verteilen. Heute sind die flotten Kraulschwimmer auf Bahn zwei unterwegs, die gemütlichen Schwanenschwimmer auf Bahn fünf. Dazwischen dann zügige Brust- oder Rückenschwimmer. Wie gesagt, das verteilt sich von alleine.

Oder auch nicht. Auf meiner Bahn ist heute eine bunte Mischung unterwegs. Ein Ehepaar, von denen er knapp so schnell schwimmt wie ich, seine Ehefrau aber vom Typ Bleiente nur die halbe Geschwindigkeit erreicht, so dass ich sie alle vier Wendungen überholen muss. Und als Ergänzung ein weiterer Badegast, der abwechselnd langsam Brust und dann umso schneller Kraul schwimmt. Mal hängt er vor mir, mal überholt er mich ziemlich rücksichtslos, um dann nach der nächsten Kehre wieder vor mir herum zu dümpeln.

Realistische Selbsteinschätzung und rücksichtsvolles Einsortieren in die passende Bahn ist also Fehlanzeige. Naja, einen Sportabend lang kann ich das verschmerzen, aber mir begegnet dieses Phänomen auch immer wieder im Alltag. Sei es aus Rücksichtslosigkeit oder auch nur ausgeprägter Stumpfheit: Hier bin ich, ich habe genauso viel bezahlt und habe das Recht, mich auszuleben.

Im Becken kann ein notorischer Abweichler (sei er zu langsam oder zu schnell) den gesamten Schwimmbetrieb durcheinander bringen und für Störung des Trainings sorgen. Die sonst gut funktionierende Selbstregulierung setzt dann aus und führt eventuell dazu, dass irgendetwas reglementiert wird. Auf einmal wird die Geschwindigkeit vorgegeben und man wundert sich über eine doch eigentlich entbehrliche Vorschrift.

Das Schlimmste, so mein Fazit, ist nicht die Störung sondern die sich daraus ergebende Regulierung, die ohne die Stumpfen und besonders Schlauen nicht notwendig gewesen wäre, am Ende aber alle trifft.

Mittwoch, 1. Mai 2024

Das ganze Wissen des Internets

Betrachten wir doch mal mit zwei Behauptungen, die im Zusammenhang mit dem Internet immer wieder geäußert werden.

Das Internet vergisst nichts.
Das ist im Kern verkehrt, als Benutzer oder Konsument kann man oft schon nach wenigen Tagen nicht mehr auf Inhalte zugreifen, die aktualisiert wurden. Manchmal findet man dann noch die gewünschten Informationen in einem „Archiv“, aber selbst dort verschwinden sie oft im Laufe der Zeit.

Rein theoretisch kann es sein, dass manches auch über viele Jahre als Backup auf Datenspeichern konserviert wird, aber irgendwann (oft nach 10 Jahren) werden auch diese Sicherungskopien gelöscht.

Andererseits liegt die Steuerung der Verfügbarkeit nur bedingt in der Hand des Benutzers. Wer sein peinliches Facebook-Foto löscht kann nicht sicher sein, dass es zeitnah auch aus den Caches der Suchmaschinen verschwindet. Und dann können die eben erwähnten 10 Jahre ganz schön lang sein.

Im Internet findet man alles.
Das ist als Aussage rührend naiv. Grundlegend kann man schon mal festhalten, dass alle Informationen, Tipps, Anstöße in irgendeiner elektronischen Form – idealerweise als Text – vorliegen. Was nur weitererzählt wird, nur handschriftlich vorliegt oder ausschließlich in klassischer Buchform veröffentlicht wurde: Das ist von vornherein nicht im Internet zu finden.

Das ganze Wissen des Internets
Als Grundschüler habe ich meinen Lehrer bewundert. Er war zweifellos ein gebildeter Mann und in vielen Disziplinen zu Hause. Ich konnte ihm Blätter mitbringen und er wusste die Baumsorte, konnte mir erklären, warum eine Glühbirne leuchtet und wie Maare entstanden sind. In den Augen eines achtjährigen Kindes war er schlichtweg allwissend. Erst im Laufe der nächsten Jahre in der Oberschule, noch deutlich natürlich im Studium, stellte ich fest, dass er bei all seiner Bildung nur  einen ganz kleinen Teil des Weltwissens abbildete. Was ich allerdings als Kind nicht wissen konnte.

Mit ähnlicher Perspektive scheinen heutzutage auch viele Erwachsene nicht zu ihrem Grundschullehrer, sondern zum Internet zu stehen. Es ist jedoch nicht allwissend, und die engagiert geführte Diskussion zur Verlässlichkeit (also der Daten-Qualität) überdeckt leider den massiven Mangel an Daten-Quantität.

Folglich sind Roboter mit Künstlicher Intelligenz nur so gebildet, wie sie geschult wurden (das ist ja bei Menschen nicht anders). Und daneben können sie nur das wissen, was sie aus irgendwelchen (elektronischen) Datenquellen erfahren haben. Das ist zwar jede Menge, aber gemessen am derzeitigen (und historischen) Wissen der Menschheit geschätzt nur ein Siebtel – analog zum sichtbaren Teil eines Eisbergs.