Mittwoch, 26. Juni 2024

Verzweifelte Suche nach der Wahrheit

Verzweifelte Suche nach der Wahrheit
Bei mir im Badezimmer steht eine Wetterstation, die mir auch die Luftfeuchtigkeit anzeigt. Und daneben im Moment noch ein kleines Hygrometer, das ich gerne mal in den Koffer packe, um auch am Urlaubsort die Feuchtigkeit ablesen zu können. Beide haben also derzeit dieselbe Position und müssten deshalb grundsätzlich auch gleiche Werte anzeigen. Doch das ist nicht der Fall. Tatsächlich weichen die Messwerte deutlich voneinander ab. Welcher stimmt denn jetzt?

Schauen wir mal genauer hin, was sich aus den unterschiedlichen Ergebnissen ableiten lässt. Halten wir zunächst fest, dass die Luftfeuchtigkeit nur einen bestimmten Wert haben kann, also keiner Auslegung oder Diskussion unterworfen ist.

Fall 1: Eines der Messinstrumente zeigt den richtigen Wert an. Nur: Welches? Ist es die Wetterstation oder die mobile Variante?

Fall 2: Beide streuen um den richtigen Wert, dann könnte man sich diesem durch Mittelwertbildung nähern.

Fall 3: Beide zeigen (nahezu) identische Werte, aber dieser stimmt nicht.

Fall 4: Beide zeigen (nahezu) identische Werte und stimmen mit dem tatsächlichen Wert überein.

Fall 5: Wir nehmen ein weiteres Messinstrument dazu, dessen Anzeige z. B. der Wetterstation entspricht. Das heißt aber nicht, dass dieser Wert stimmt (siehe Fall 3)

Schon dieses simple Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, die "Wahrheit" herauszufinden. Dass man aus einer Informationsquelle nur in recht speziellen Fällen (bei Messinstrumenten würde man es als Eichung bezeichnen) die Realität herausbekommt, liegt auf der Hand. Aber selbst eine zweite Quelle als Ergänzung hilft nicht unbedingt weiter. Immer noch befinden wir uns bei den gerade beschriebenen Fällen. Menschlich nutzen wir in Fall 1 Argumente wie Verlässlichkeit oder Vertrauen, aber das sind eher gefühlte als belastbare Faktoren. Besonders trügerisch ist Fall 3, denn hier urteilen wir aus einer Art Demokratieverständnis grundlegend falsch.

Nun sind wir im täglichen Leben - insbesondere bei Nachrichten - mit sehr vielen Informationsquellen konfrontiert. Und aus diesen vielen Quellen die eine (oder wenige) richtige gemäß Fall 1 herauszufinden ist nahezu unmöglich. Wie zu erwarten setzen wir auf Fall 2, fordern Beweise für die präsentierte Darstellung und führen im Kopf eine Art Durchschnittsbestimmung aus. Aber nur weil eine Mehrheit eine bestimmte Meinung vertritt muss sie ja nicht richtig sein. Und zusätzlich bilden wir uns eine Meinung ohne zu erkennen, dass sie von der Konstruktion her auf einer Statistik beruht; die von Natur aus eine Verteilungsfunktion ist und damit durchaus auch Aussagen links und rechts vom Maximum der Verteilungskurve kennt.

Heißt: Wenn es schon schwierig ist, die tatsächliche Luftfeuchtigkeit in meinem Badezimmer zu bestimmen, wie soll man dann in den Gemengelagen der Nachrichtenportale eine belastbare Aussage treffen? Hier fließen neben den berichteten Fakten noch ganz wichtig Themen wie Vertrauen, wenn irgendwie möglich Belege und schließlich möglichst viele Perspektiven eine Rolle.

Und noch weiter: Erweitern wir den Blick von Nachrichten auf Informationen im Privat- oder Berufsleben, die wir als Basis für Entscheidungen nutzen. Auch hier sind die Messmöglichkeiten (Einschätzung der Fachleute) ähnlich schwierig zu verwenden wie im Falle der Luftfeuchtigkeit. Wir müssen damit leben, dass wir in der Praxis nur höchst selten Fall 4 (korrekte Anzeige / Beratung) bekommen.

Diese Erkenntnis ist sicher unbefriedigend, entspricht aber der Realität. Die Forderung nach „richtigen“ Nachrichten und zutreffenden Bewertungen ist unrealistisch. Wir können die Datenbasis nur bedingt verbessern und müssen zwingend mit der diskutierten Unsicherheit leben.

Dienstag, 18. Juni 2024

Komplexität? – Nicht einfach!

Komplexe Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass sie verschiedene Einflussfaktoren (Input) haben, gleichzeitig mehrere Ergebnisse (Output), diese Kanäle auch noch miteinander verbunden sind (Rückkopplung) und schließlich Reaktionen nicht streng proportional erfolgen (Nichtlinearität).

Komplexität nicht einfach
Im täglichen Leben sind wir hiervon umgeben, insbesondere die Politik ist ein typisches Feld von Komplexität. Wenn ich einen Wirtschaftszweig subventioniere beschwert sich ein anderer Zweig, beiden ist aber gemeinsam, dass sie bestimmte Verbraucherreaktionen hervorrufen, die sich allerdings in den Zielgruppen unterscheiden. Und so weiter.

Wenn man dies bei der Betrachtung und Beobachtung von politischen Entscheidungen berücksichtigt, wird klar, dass man in praktisch allen Fällen feststellen muss: "Die Welt ist nicht so einfach". Es gibt nur in seltenen Fällen eindeutig richtige oder falsche Entscheidungen (dann handelt es sich eben nicht um komplexe, sondern maximal um komplizierte Systeme). Und da der gewünschte Effekt entweder qualitativ oder quantitativ anders eintritt als erwartet und zudem unerwartete oder gar unerwünschte Nebeneffekte aufweist muss man viel herumprobieren.

Als weitere Schwierigkeit kommt hinzu, dass geeignete Lösungen sowohl zeitlich als auch regional unterschiedlich aussehen können. Was heute gut ist, kann morgen schlecht sein. Was in Deutschland ein toller Ansatz ist, kann in einem anderen Land in die falsche Richtung gehen. Aus der Vergangenheit lernen, von einem anderen Land abschauen oder auch nur sehr ähnliche Vorgänge nachzuahmen geht mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit schief.

Ebenso hohe Wahrscheinlichkeit des Scheiterns findet man vor, wenn eine Ideologie auf ein komplexes System trifft. Starre Sicht, fixierte Glaubenssätze, dogmatische Vorgaben und unflexible Organisation sind für die Behandlung von Komplexität von der Basis her ungeeignet.

Schauen wir auf die Hippie-Bewegung und ihre Vorstellung einer freiheitlichen Sozialstruktur. Dass der Ansatz nicht in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, können alle jüngeren Leute bestätigen. Aber selbst die bemerkenswerten Versuche, dieses Modell in kleinem Rahmen zu etablieren sind bei unvoreingenommener Betrachtung gescheitert. In der dänischen Freistadt Christiania kann man sich dies einmal anschauen.

Übrigens machen auch viele Firmen oder Teams die Erfahrung, dass Selbstorganisation im Optimalfall funktioniert und motiviert, aber oft eher zu Durcheinander oder Unzufriedenheit führt. Man kann dieses Modell nicht als die grundsätzlich richtige Lösung bezeichnen, weil es stark von der Situation, den handelnden Menschen (und deren Teamtyp) sowie weiteren Randbedingungen abhängt.

Dies zu verstehen und in allen hieraus resultierenden Konsequenzen zu akzeptieren fällt den meisten Menschen überaus schwer. Sie sagen dann "das kann doch nicht so schwierig sein, wofür gibt es Fachleute?", oder "Das leben uns die Skandinavier doch vor, warum machen wir es nicht auch so?" oder bei Kindern und Managern beliebt: "Will ich aber!". Diese Fehleinschätzung führt nicht nur zu unberechtigter Kritik, auch die hieraus scheinbar logisch gezogene Konsequenz ist verkehrt.

Weder ein noch so versierter Fachmann noch ein beliebig ausgefuchstes Computersystem können eine eindeutig richtige Antwort geben. Gerade in Zeiten von ChatGPT, einem scheinbar allwissenden Berater, muss man sich das noch mal sehr deutlich vor Augen halten. Einziger eventueller Vorteil ist, dass ein Computer im Sinne der Spieltheorie in kürzester Zeit ganz viele Möglichkeiten durchspielen (simulieren) kann und damit - ein geeignetes Modell vorausgesetzt - einen guten Vorschlag für einen praktischen Probelauf machen kann.

Abschließend aber auch der Hinweis, dass man selbst bei Probeläufen und Tests geschickt oder ungeschickt agieren kann. Ob man ein wissenschaftliches Experiment durchführt, ein neues Rezept ausprobiert oder die Reaktion seiner Mitmenschen auf eine ungewöhnliche These einschätzen will: Es gibt Ansätze, die mit Sicherheit scheitern und andere, die eine gewisse Erfolgswahrscheinlichkeit haben. Nur Mut also, aber je verwegener der Antritt, desto wichtiger ist eine möglichst umfassende Systembeobachtung und bedarfsweise Anpassung der Parameter.

Dienstag, 11. Juni 2024

Kultur, Individuum und ChatGPT

Kultur, Individuum und ChatGPT
Gerade in meinem Umfeld scheine ich von Individuen umgeben zu sein. Jeder ist etwas Besonderes oder fühlt sich so oder gibt sich so. Jedenfalls gibt wenig verbindende Eigenschaften, könnte man meinen. Das ist natürlich nicht der Fall. Vielmehr leben wir in einer sozialen Struktur mit gewissen Eigenschaften, die sie zu einer Gemeinschaft, zu einer Kultur machen.

Da gibt es in verschiedenen Rubriken absolut unterschiedliche Eigenschaften. Reden Amerikaner sehr direkt, gibt es in asiatischen Kulturen einen umfangreichen Subtext, den man als Zuhörer erst entschlüsseln muss – die eigentliche Botschaft ist oft versteckt oder verklausuliert. In anderer Rubrik ist das Austeilen und Entgegennehmen von Feedback sehr unterschiedlich. Schätzt die eine Nation den direkten und offenen Ton, gilt dies in anderen Ländern als grob und unhöflich.

Diese nationalen Eigenschaften werden dann natürlich noch von den individuellen Charakteren überdeckt. Nicht alle Deutschen wünschen eine hierarchiearme Unternehmensstruktur, nicht jeder Amerikaner ist Gegner deduktiver Argumentation. Vielmehr schauen wir bei der Ausbildung von „Kultur“ auf eine Art Mittelwert, versuchen eine Typologisierung hinzubekommen.

Und in diesem Umfeld bewegt sich natürlich auch jeder multinationale Roboter. Welche Kultur soll ein ChatGPT haben, hat er eine eigene Kultur, passt er sich in seinen Antworten an sein Gegenüber, also an den Benutzer an? Ich glaube, diese Technik spricht zwar viele Sprachen, aber bezüglich der Kultur ist sie dann doch eher an amerikanischen Ansätzen orientiert – schließlich kommen ja auch die Trainer aus diesem Kulturkreis.

Mittwoch, 5. Juni 2024

Dann merk ich mir halt irgendwas anderes

Ich sitze im Wartezimmer einer Arztpraxis, in der Ecke ein paar Holzspielsachen auf einem abgenutzten Teppich, das ist wohl das Angebot für Kinder, die Zeit totzuschlagen, die man hier verbringen muss. Für Erwachsene ist nicht gesorgt, vielleicht ist das auch nicht mehr zeitgemäß, weil sich jeder seine Unterhaltung auf dem Handy mitbringt. Mein Gehirn hat Leerlauf, es gibt nichts irgendwie Bewegendes oder Bemerkenswertes.

Da fällt mein Blick auf ein Plakat an der Wand mir gegenüber. In etwas sperriger Formulierung wird für ein Diagnoseverfahren geworben. Ich lese etwas über die verwendete Technik und die erzielbaren Erkenntnisse sowie die leider notwendige Zuzahlung als individuelle Gesundheitsleistung. Obwohl für mich irrelevant studiere ich den Aushang bis ins letzte Detail, sehe noch ganz klein unten links die Druckerei mit ihren Kontaktdaten.

Merk ich mir irgendwas
Gerade habe ich eine Reihe überflüssiger Informationen aufgenommen, mein Speicher hat sich mal wieder selbständig gemacht und da sonst nichts zu merken war das Erstbeste zumindest bis in das kurzzeitige Gedächtnis aufgenommen. Wie schade, denke ich, da lasse ich mein Gehirn mal einen Moment ohne Aufsicht, schon macht es was es will. Mit ein bisschen Führung hätte ich meditieren, etwas wiederholen oder einen bis dahin nicht abgeschlossenen Gedankengang weiterverfolgen können.

Unsere Sinne, besonders Ohren und Augen, liefern uns pausenlos irgendwelche Informationen. Ob wir sie verwenden, abwehren oder verwerfen ist der nachgelagerten Verarbeitung überlassen. Und die können wir (bis zu einem gewissen Grad) beeinflussen. Nur weil ein Plakat vor meiner Nase hängt muss ich es nicht eingehend studieren. Dabei ist es andererseits eine normale Reaktion, dass wir ein neues Umfeld erst mal sorgfältig betrachten - das Reptil in uns lässt grüßen.

Interessant ist die Aufmerksamkeit, die wir unseren Gedanken widmen. Nicht nur den Inhalten, auch der Themenwahl und den hieraus abgeleiteten Reaktionen, Überlegungen und Gefühlen sind wir ja nicht schutzlos ausgeliefert. Vielmehr ist Führungsstärke gefragt. Ähnlich einem guten Sekretär oder einem Mitarbeiter muss ich schon Instruktionen erteilen, was ich will. Sonst kommt irgendwas heraus (was ich mir merke).