Mittwoch, 10. Juli 2024

Die Krux mit der Messung

Auf halber Strecke nach Frankfurt zweigt eine kleine Bahnlinie ab. Die Schienen sehen recht rostig aus, aber das Gleisbett ist freigeschnitten und grundsätzlich könnte es sein, dass hier noch Züge fahren. Vor ein paar Tagen kam ich mit dem Fahrrad an der Stelle vorbei und entschloss mich spontan, den Radweg entlang der Linie zu nehmen. Tatsächlich gibt es kurz nach dem Abzweig einen Bahnsteig, kein Bahnhofsgebäude, aber immerhin eine Plattform, an der ein Zug halten und die Fahrgäste ein- und aussteigen können.

Ich stieg ab, schaute mir das Wartehäuschen an, kein Aushangfahrplan, nur eine notdürftig überdachte Bank. Nichts deutete darauf hin, dass hier ein Zug fahren könnte. Ich schaute auf die Uhr, kurz vor zwölf, Zeit für eine Mittagsstation. Mit ein paar Handgriffen hatte ich den Rucksack vom Gepäckträger auf die Bank gestellt, packte mein Picknick aus und setzte mich auf die Bank.

Den schönen Ausblick genießend entschloss ich mich, diese Zwischenstation nun zukünftig in meine Radtouren zu integrieren. Und so war dieses Wartehäuschen in den Sommermonaten mein stetes Ziel auf den ansonsten wechselnenden Ausflügen. Ende September waren mal die Pflanzen rund um meine Bank geschnitten, das Unkraut entfernt. Ansonsten passierte nichts, insbesondere habe ich keinen Zug gesehen.

Nach und nach verfestigte sich meine Überzeugung, dass es sich um eine stillgelegte Bahnstrecke handelte. Hier fuhr offensichtlich nie ein Zug. Bestimmt hatte die Deutsche Bahn die Strecke nicht mehr in Gebrauch, musste aber aus irgendwelchen formalen Gründen die Pflege fortsetzen. Eigentlich schön, dass auch diese Teile der Infrastruktur in Schuss gehalten wurden, obwohl sie nicht mehr in Betrieb sind.

Die Krux mit der Messung
Doch meine Gedanken zur Nutzung der Strecke waren falsch, wie ich bei einer Radtour an einem spätherbstlichen Werktag feststellte. Ich hatte ein paar Tage Urlaub genommen, wie gewohnt mein Rad aus der Garage geholt und saß - diesmal noch früher Morgen - wieder auf meiner Aussichtsbank. Und da hörte ich von Ferne einen Zug kommen, eine schwere Diesellokomotive schleppte einen kurzen Zug mit wenigen Wagons diese Nebenstrecke entlang. Zu meiner Überraschung hielt sie sogar an der Plattform an und ein paar Personen stiegen aus.

Vielleicht konnten sie meinen fragenden Gesichtsausdruck sehen, jedenfalls sprach mich ein älterer Mann an. Wir kamen kurz ins Gespräch und ich erfuhr, dass diese Strecke täglich für Berufstätige befahren wurde, jeweils morgens und abends drei Züge im Stundentakt. Das erklärte natürlich, warum die Schienen freigeschnitten waren und bei sorgfältiger Betrachtung hätte mir möglicherweise sogar das niedergetretene Kraut rund um das Wartehäuschen verdächtig sein können. Aber ich war im Laufe der Monate so von der Stilllegung überzeugt, dass ich meine Einschätzung gar nicht mehr in Frage gestellt hatte.

Ich verabschiedete mich von dem weitereilenden Mann, setzte mich wieder auf die Bank und schaute dem davonschnaufenden Zug hinterher. Irgendwie bemerkenswert, dachte ich, zum einen, weil ich bestimmt auch in anderen Situationen nach einiger Zeit mein Urteil nicht mehr in Frage stelle. Sei es bezüglich gekaufter Produkte, Abläufen oder auch Mitmenschen und Beziehungen. Und zum anderen, wie krass ich mit der Folgerung, hier führe überhaupt nie ein Zug daneben gelegen hatte. Ausgehend von eigentlich punktuellen Messungen hatte ich in unzulässiger Weise verallgemeinert. Auch das ein Phänomen, das mir im Alltag immer wieder unterkommt. Mal erwächst hieraus ein unangemessenes Vertrauen, mal stelle ich eine Leistung in Frage, weil ich unbemerkt stets im selben falschen Moment hinschaue.

Messungen sind also immer so eine Sache. Es kommt nicht nur auf die Präzision und die gemessenen Werte an, sondern mindestens genauso wichtig auf die Randbedingungen wie zum Beispiel den Zeitpunkt oder die Perspektive. Nur weil man immer wieder dasselbe feststellt muss es deswegen keine Konstante sein.

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