In meiner Studentenzeit habe ich in weinseliger Stimmung mit einem Freund mal ein ESP für Koffer entworfen. Damals waren die Koffer ziemlich schmal, hatten an der kurzen Seite zwei Räder und waren entsprechend kipplig. Was also lag näher, als das bei Autos bewährte Prinzip des Elektronischen Stabilitäts Programms auf den Koffer zu übertragen. Wir wollten die Schräglage des Koffers mit Sensoren messen und ab einem bestimmten Winkel das eine oder das andere Rad sanft bremsen, um so den Koffer über das Einleiten einer leichten Kurve wieder in die aufrechte Position zu bekommen.
Man könnte dieses Prinzip in der heutigen Zeit noch mit Künstlicher Intelligenz ausstatten, die notwendigen Steuerimpulse der Radbremsen der Fahrsituation anpassen, die Kofferbeladung bestimmen und überhaupt aus den Systemreaktionen lernen lassen.
Doch was macht irgendein anderer findiger Mensch? Er schraubt statt der bisher zwei Rädchen gleich vier unter den Koffer. Keine Sensoren, keine Elektronik, keine KI und doch ist die Gefahr des Kippens erheblich verringert. Bringt man jetzt noch den Griff so an, dass man die breite Seite zieht, ist ein Umkippen praktisch ausgeschlossen.
Was ist geschehen? Wir hatten einen schönen Abend, haben uns prima amüsiert und in immer verrückteren Details mit dem Problem beschäftigt. Dabei aber nur in eine Richtung gedacht, nämlich den seinerzeit marktüblichen Standard genommen und optimiert. Was fehlte war die Abstraktion, das Abwenden von der mehr oder weniger oberflächlichen Behandlung der Symptome.
Wir hätten zum Beispiel überlegen können, was Kippen im technischen Sinne heißt und wie man es beheben kann. Über Betrachtung des Schwerpunktes, seiner Bewegung und deren Beeinflussung hätte sich vielleicht die Montage weiterer (rollbarer) Unterstützungspunkte ergeben. Alternativ hätten wir (unter Alkoholeinfluss vielleicht sogar noch besser) drauflos phantasieren können, die beiden Reifen in Gedanken abgeschraubt, einen fliegenden Teppich montiert und schließlich beim quergezogenen Vierräderer landen können.
Natürlich, das erleben wir ja immer wieder: Entwicklungen überholen sich, mit einer automatischen Tränke für Pferdekutschen könnte man heutzutage keine Begeisterung mehr hervorrufen. Und ebenso hätten wir vor 40 Jahren vielleicht noch ein Koffer-ESP verkaufen können, heute würde man uns ungläubig anschauen.
Aber neben dem Zahn der Zeit geschuldeten Vergänglichkeit von Entwicklungen entdecke ich immer wieder Neuerungen, die absehbar schon deshalb eine kurze Halbwertszeit haben, weil sie nur Symptome bearbeiten, statt der Ursache auf den Grund zu gehen.
Anmerkung in dieser Sache: Die derzeit viel propagierte Allmacht der Künstlichen Intelligenz heilt in vielen Anwendungsfeldern auch nur Symptome, angefangen bei mangelhafter Datenqualität über Probleme mit der Bereitstellung bis hin zu Schludrigkeit in der Datenauswertung. Und unterstützt an vielen Stellen marode Prozesse, die nach gehöriger Optimierung auch ohne KI flutschen würden.
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