Dienstag, 30. März 2021

Der Alltag mit seiner actio = reactio

Eine Grundfeste der Physik ist die Symmetrie, eine andere Säule ist die Erhaltung. (Beide Grundwerte hängen miteinander zusammen.) Werfen wir heute einen Blick auf die lebensnahe Interpretation der Symmetrie von Handlung (actio) und Folge (reactio).

Erster Alltagseffekt: Mechanik. In der Mittelstufe der Schule haben wir dieses Phänomen schon kennengelernt, und auch als Erwachsener ist uns klar, dass ein Kranarm so viel tragen muss, wie wir unten dranhängen. Simpel, nicht wahr?

Beim Einkauf: „Nix is ömmesöns“ (Kölsch: Nichts ist umsonst), stets muss man für eine Leistung eine Gegenleistung erbringen. Im Standard kauft man ein Produkt, tauscht also Geld gegen Ware. Wenn man kein Geld hinlegen muss, dann besteht die zu erbringende Leistung immer auf einer anderen Ebene – „Wenn Du nichts zahlen musst, bist Du das Produkt.“.

Aber es gilt auch in der Soziologie. Wie wir uns verhalten hat Einfluss auf das Verhalten der Mitmenschen oder wie es im Sprichwort heißt: „Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus“.

Nicht viel anders bei Geschenken, sei es wörtlich als physische Ware, sei es als immaterielle Gabe und Versorgung. Denn es hat ja stets einen Grund, warum wir etwas schenken oder beschenkt werden. Sei es eine verdeckte Form der Bestechung (beispielsweise das Erkaufen von Liebe), sei es als Anzahlung auf die Gewährung eines zukünftigen Vorteils und so fort.

Die Psychologie weiß ebenfalls davon zu berichten. Was dort beispielsweise mit Spiegelneuronen erklärt wird, an anderer Stelle als pacing und rapport bezeichnet wird, ist tatsächlich nichts anderes als der behutsame Einsatz einer bestimmten actio, um eine gewünschte reactio herbeizuführen.

Und was sagen unsere Betriebswirte? Nun, die messen naturgemäß alles in einer allgemeinen Messgröße namens Währung. Und da wird dann der Erfolg eines Unternehmens am Markt durch die Marktdurchdringung festgestellt.

Bestimmt gibt es noch viele andere Beispiele, ein besonders schönes fällt mir spontan noch ein: das Marketing. Es ist der meist recht experimentelle Versuch, über Werbekampagnen (Aktionen) die potentiellen Kunden zum Markt zu bewegen und dort mit ihnen als Käufer ins Geschäft zu bekommen. 

Dienstag, 23. März 2021

Nicht hinstarren! – Ausweichen!

Es war absolut erschreckend, mit welcher Geschwindigkeit ich mich dem plötzlich vom ADAC-Trainer auf die Fahrbahn geworfenen Pylon näherte. Ich trat voll auf die Bremse, die Reifen quietschten, ich hing im Gurt, aber es wurde immer knapper. Sekundenbruchteile in Schockstarre, bis der orange-weiße Leitkegel in hohem Bogen zur Seite flog. Im normalen Straßenverkehr hätte es jetzt einen saftigen Unfall gegeben.

Besprechung mit dem Trainer. Ok, sagt er, ihr habt jetzt erlebt, wie es sich anfühlt, wenn der Bremsweg nicht mehr reicht, wenn ihr eine Vollbremsung hinlegt, wenn es kracht. Aber ihr seid alle wie gebannt auf das Hindernis zugefahren, dabei hättet ihr auch ausweichen können. Das Ausweichen selbst ist dabei meist gar nicht so schwer, aber man starrt stattdessen den Pylon oder was auch immer an, der Blick ist wie festgenagelt. Und man fährt eben immer da hin, wo man hinsieht. Also: Ihr müsst erst mal den Blick lösen, nach dem Ausweg suchen und dann dorthin (!) schauen. Nicht mehr auf das Hindernis, das ist da, das hilft euch auch nicht, sondern aktiv in die Richtung, die eine Rettung vor dem Unfall sein könnte.

Nächster Übungsdurchgang, gesagt, aber nicht getan. Wieder der Pylon, wieder die Vollbremsung, aber es dauerte viel zu lange, bis ich endlich bewusst an die Worte dachte und das Ausweichmanöver einleitete. Also flog der Pylon wieder durch die Luft, es hätte wieder gekracht, nur vielleicht nicht ganz so schlimm wie beim ersten Mal.

Nur Mut, beruhigte uns der Trainer, wir machen das einfach noch mal.

Und tatsächlich, in der dritten Runde, mit glühenden Wangen, gelang es mir, den Blick wegzubewegen und wie von Geisterhand steuerte auch mein Auto diesmal rechts an der Blockade vorbei. Ich war begeistert.

Das geht übrigens auch im täglichen Leben mit Hindernissen, Blockaden und Missgeschicken des Alltags. Ich kann wie beim ADAC-Sicherheitstraining hinstarren und dagegen knallen. Gerne in Kombination mit Gejammer oder Kritik am Auslöser dieser Behinderung. Was allerdings nichts nützt und trotzdem zu irgendwas Misslungenem oder Kaputtem führt.

Oder es gelingt mir, das Hindernis als solches zu akzeptieren und nicht zu versuchen, trotzdem ans Ziel zu kommen. Zeit, Phantasie, Fachkenntnis und so weiter konzentriere ich viel mehr auf die Suche nach Ausweichmöglichkeiten. Und die werden dann ohne traurigen Rückblick auf den eigentlich vorgesehenen Weg mit voller Energie genutzt.

Dienstag, 16. März 2021

Wer braucht schon einen Bassisten

Langsam geht das Saallicht aus, kurze Dunkelheit, dann die Scheinwerfer und Spots, der Sänger stürzt auf die Bühne, schnappt sich das Mikro, raunzt irgendwas Unverständliches hinein und wird nun verstärkt durch den auftauchenden Leadgitarristen, der seinem Instrument einen wilden Riff entlockt. Das Publikum klatscht, in die beginnende Show mischt sich seitlich der Keyboarder ein, kontrapunktiert den Sound und sorgt mit wilden Faxen für Aufsehen, während über allem der Schlagzeuger thront, mit seinen Stöcken die Felle traktiert und uns mit dem Fußpedal vor der Bassdrum den Rhythmus in die Magengrube pumpt.

Längst ist der erste Titel bei seinem zweiten Refrain angekommen und die Zuschauer starren wie hypnotisiert auf Sänger und Gitarrist, als der Sound plötzlich dünn wird. Es dauert einen Moment, bis man bemerkt, dass nun hinten auf der Bühne Bewegung ist, da stand doch tatsächlich ein Bassist, unbemerkt, nahezu unbeweglich und nur mäßig beleuchtet, jetzt aber fingert er mit hastigen Bewegungen an seinem Verstärker und dem Kabel, ein Roadie kommt ihm zu Hilfe, beide fummeln an dem Equipment herum, ein zweiter Roadie bahnt sich einen Weg zu ihm, ein Ersatzkabel in der Hand und dann hört man endlich ein paar befreiende tiefe Töne, bis der Bassist seinen Klangteppich wieder vollständig unter dem Sound der restlichen Band ausgerollt hat.

Wer das noch nicht erlebt hat, kennt ähnliche Szenen aus dem Alltag. Vieles, was unbemerkt vorhanden ist, als Selbstverständlichkeit angenommen und nicht in seiner eigentlichen Relevanz wertgeschätzt. Das erstreckt sich von ausreichend Nahrung über die Freizeitgestaltung bis zur Gesundheit. So richtig wachgerüttelt werden wir erst, wenn diese vermeintlichen Natur-Gegebenheiten mal wegfallen. Muss man erst mit rationierter Nahrung wochenlang auf einer Berghütte ausharren, Corona-bedingt dem Kino fernbleiben oder allmorgendlich mit Hüftschmerzen aufwachen, damit man erkennt, wie gut es einem geht?

Besonders häufig treffe ich dieses Phänomen aber auch im Berufsleben an. Da besteht ein Team aus den unübersehbaren Performern, mehr oder weniger gute Leistung verbunden mit gutem Selbstmarketing. Da werden von vielen Mitarbeitern und Führungskräften die Menschen übersehen, die wie unser Bassist den Teppich bilden, durch stille Arbeit im Verborgenen erst das Ergebnis ermöglichen oder zumindest abrunden, Mauerblümchen, Schattengewächse. Die brauchen wir unbedingt auch, sie müssen wertgeschätzt und auf ihre Art eben auch gehegt und gepflegt werden. 

Dass ein gutes Team stets aus einer gekonnten Mischung aus Frontleuten und Hintergrundakteuren besteht, beschreibt R. M. Belbin in seinem Buch „Managementteams“. Dort stellt er auch dar, dass hochkarätig besetzte Teams durchaus erfolglos sein können. Um im eingangs gemalten Bild zu bleiben, kann auch ein Ensemble aus gutem Sänger, Gitarrist, Keyboarder und Schlagzeuger nicht auf den Bassisten verzichten.

Dienstag, 9. März 2021

Um mich herum im Hörsaal

Als ich zum ersten Mal im Hörsaal der Universität saß: Alles so fremd hier, mehrere hundert Personen um mich herum, vorwiegend Jungs, ein paar Mädchen, alle wie ich Anfang zwanzig. Wir saßen dort, weil in Kürze die Einführungsveranstaltung für Physikstudenten anfing, mehr oder weniger unsicher waren wohl alle, man kannte ja keinen, die Stadt fremd und eine unbekannte Zukunft vor uns.

Im Laufe der nächsten Wochen wurde es leerer im Hörsaal. Zuerst gingen die, die dem Stoff nicht folgen konnten. Schlicht überfordert von den komplizierten Inhalten, von der schieren Menge oder entsetzt über den Gedanken, das in den nächsten Jahren fortsetzen zu müssen.
Eine andere Fraktion der frühen Abgänger waren die Enttäuschten. Sie hatten sich etwas anderes unter dem Studium vorgestellt, halbwegs brauchbar für den Alltag, so eine Art verlängerter Leistungskurs. Im Kontrast dazu wurde uns die Physik angeboten als ziemlich abstrakte Anwendung von Mathematik. Praktische Anwendbarkeit war kein Thema, wer wollte, konnte sich das zu Hause nach Feierabend überlegen.

Dann verschwanden die, die – vielleicht zum ersten Mal – an ihre Grenzen kamen. Wer bislang in der Schule der gefeierte Held war, befand sich ja jetzt unter hunderten anderer Helden, alle mit LK Physik, alle mit Interesse an diesem Fach, alles intelligente Kameraden. Und die recht leicht erworbene Schul-Eins ging in ein hart erkämpftes knappes Bestanden oder sogar ein gelegentliches Durchfallen über. Sie hätten das Studium fortsetzen können, allerdings kam ihnen die ungewohnte Konfrontation mit Scheitern, der notwendigen Frustrationstoleranz und der erzwungenen inneren Bescheidenheit und Demut in die Quere.

Überraschenderweise waren aber immer noch die um mich herum, die der Vorlesung gar nicht so recht folgen konnten, dies aber aus der Schule gewohnt waren. Sie taten, was sie konnten, vernetzten sich mit Kommilitonen, bildeten Lerngruppen. Einige neigten auch dazu, sich die durchgefallenen Prüfungen schönzutrinken.

Nach den ersten Semestern war der Hörsaal nur noch recht übersichtlich besetzt, niemand war ausgesiebt worden, die allermeisten hatten sich freiwillig anders orientiert. Wer jetzt noch zur Vorlesung kam, hatte ein halbwegs angemessenes Bild vom Physikstudium, von den Ansprüchen, von der eigenen intellektuellen Leistung.

Der nächste Meilenstein dann das Vordiplom, Klausuren, mündliche Prüfungen. Die Prüfer zwar wohlwollend, aber hinsichtlich des Wissens auch fordernd. Hier mischte sich dann die Erkenntnis ein, dass es überhaupt keinem Menschen möglich sein kann, den gesamten Stoff auf Lager zu haben. Eine Mischung aus Lernen auf Lücke, eine Lernstrategie in Richtung guter Überblick über die Zusammenhänge und ein erhebliches Maß an psychischer Belastbarkeit waren für ein gutes Bestehen notwendig.

Ab diesem Punkt passierte nicht mehr viel. Wer sich durch das Grundstudium gekämpft und das Vordiplom bestanden hatte, der manövrierte sich auch erfolgreich durch die folgenden Jahre. Man konnte jetzt Schwerpunkte setzen, Vertiefung in besonders interessante Nebenfächer vornehmen oder sogar mal ein ruhiges Semester für die (nennen wir es mal) Konsolidierung des angesammelten Wissens einlegen. Die Zeit führte dann jeden zum Diplom, welches das verbliebene tapfere Häufchen praktisch ohne Durchfaller bestand.

Einige Aspekte bei diesem Rückblick finde ich erwähnenswert. Offensichtlich reicht es nicht, nur fachkompetent zu sein, weitere hilfreiche (um nicht zu sagen notwendige) Eigenschaften sind Durchhaltevermögen, Frustrationstoleranz und die Erkenntnis, dass einem keiner besser helfen kann als man sich selber.

Und daraus abgeleitet für das spätere Leben, dass es weniger auf den Stoff ankommt, als auf den geschickten Umgang damit, das Verständnis, dass niemand – auch man selbst nicht – wirklich bis in die Tiefe kompetent ist, und dass man grundsätzlich und alles bei wissenschaftlicher Betrachtung in Frage stellen muss.

Womit ich beim Abschluss bin. Denn natürlich ist nicht nur jeder Mensch anders, auch die Erwartungen sind je nach Umfeld sehr unterschiedlich. Im Wissenschaftsbetrieb kann man davon ausgehen, dass sich je nach Spezialisierung nur eine Handvoll Menschen auf dem Globus mit einem Thema auskennen. Ebenso ist es selbstverständlich, jede neue Erkenntnis auf den Prüfstand zu stellen, Theorien soweit möglich durch Experimente zu stützen, Experimente durch Theorien zu untermauern. 

Doch wie anders funktioniert das in der freien Wirtschaft. Wenn dort ein Physiker vor den Vorstand eines Unternehmens tritt und ihm wahrheitsgemäß erklärt, dass seine erarbeitet Lösung unter den formulierten Bedingungen voraussichtlich eine Erfolgsquoten von 80 % hat, dann wird es eng. Dann nämlich, wenn ein weniger wissenschaftlicher und vielleicht sogar weniger fachkundiger Berater mit leuchtenden Augen berichtet, dass sein Vorschlag bisher bei allen Kunden perfekt funktioniert hat – Referenzen anliegend. Wer den Wissenschaftler im Herzen trägt, wird sich mit dem praxistauglichen Umgang mit dieser augenscheinlichen Kurzsichtigkeit schwer tun, sollte aber schnell lernen, eine geeignete Präsentationsform zu finden. Nämlich eine, die sicher wirkt, dabei aber auf dem Boden wissenschaftlicher Qualität bleibt.

Dienstag, 2. März 2021

Highway to Hell


Schon das Wort Highway ist für mich mit Gefühlen verbunden. Unendliche Weiten, für mich kaum fassbare Entfernungen, Sicht bis zum Horizont. Wie klein und unübersichtlich ist dagegen eine deutsche Landstraße. Der Blick geht gerade mal bis zur nächsten Kurve, rauf geht es und direkt wieder runter, durch die mäandernde Führung ist die Strecke länger als der Abstand der Orte.
Da kann man den Amerikanern nur gratulieren, die Distanz zwischen Start und Ziel ist durch die schnurgeraden Strecken kürzestmöglich verbunden.

Doch halt, diese Optimierung hat auch ihre Kehrseite. Der Fahrer neigt dazu, mangels Forderung der Aufmerksamkeit einzuschlafen. Und die Begegnung mit einem Fahrzeug dauert viele Minuten, was bei Dunkelheit sehr lästig sein kann.
Ist also Lean der richtige und optimale Ansatz? Im Sinne eines lokalen Maximums mag dies der Fall sein, aber global betrachtet muss man auch die Nachteile im Auge behalten. Der Bogen einer (europäischen) Landstraße ist Verschwendung. Aber sie hält auch wach und macht den Weg wünschenswert interessanter. Sie ist – das möchte ich betonen – dabei auch nicht nur Schikane oder Durcheinander, sondern geplanter (und zum Beispiel wegen Grundstücken oder anderen Randbedingungen) Weg zum Ziel.

Insofern müssen wir Lean als guten Gedanken verstehen, der aber gerade bei nicht automatisierbaren (d. h. robotergestützen) Prozessen nicht bis zur völligen Verödung durchgesetzt werden sollte. Sonst sind wir nicht auf dem Stairway to Heaven, sondern auf dem Highway to Hell.