Als ich zum ersten Mal im Hörsaal der Universität saß: Alles so fremd hier, mehrere hundert Personen um mich herum, vorwiegend Jungs, ein paar Mädchen, alle wie ich Anfang zwanzig. Wir saßen dort, weil in Kürze die Einführungsveranstaltung für Physikstudenten anfing, mehr oder weniger unsicher waren wohl alle, man kannte ja keinen, die Stadt fremd und eine unbekannte Zukunft vor uns.
Im Laufe der nächsten Wochen wurde es leerer im Hörsaal. Zuerst gingen die, die dem Stoff nicht folgen konnten. Schlicht überfordert von den komplizierten Inhalten, von der schieren Menge oder entsetzt über den Gedanken, das in den nächsten Jahren fortsetzen zu müssen.
Eine andere Fraktion der frühen Abgänger waren die Enttäuschten. Sie hatten sich etwas anderes unter dem Studium vorgestellt, halbwegs brauchbar für den Alltag, so eine Art verlängerter Leistungskurs. Im Kontrast dazu wurde uns die Physik angeboten als ziemlich abstrakte Anwendung von Mathematik. Praktische Anwendbarkeit war kein Thema, wer wollte, konnte sich das zu Hause nach Feierabend überlegen.
Dann verschwanden die, die – vielleicht zum ersten Mal – an ihre Grenzen kamen. Wer bislang in der Schule der gefeierte Held war, befand sich ja jetzt unter hunderten anderer Helden, alle mit LK Physik, alle mit Interesse an diesem Fach, alles intelligente Kameraden. Und die recht leicht erworbene Schul-Eins ging in ein hart erkämpftes knappes Bestanden oder sogar ein gelegentliches Durchfallen über. Sie hätten das Studium fortsetzen können, allerdings kam ihnen die ungewohnte Konfrontation mit Scheitern, der notwendigen Frustrationstoleranz und der erzwungenen inneren Bescheidenheit und Demut in die Quere.
Überraschenderweise waren aber immer noch die um mich herum, die der Vorlesung gar nicht so recht folgen konnten, dies aber aus der Schule gewohnt waren. Sie taten, was sie konnten, vernetzten sich mit Kommilitonen, bildeten Lerngruppen. Einige neigten auch dazu, sich die durchgefallenen Prüfungen schönzutrinken.
Nach den ersten Semestern war der Hörsaal nur noch recht übersichtlich besetzt, niemand war ausgesiebt worden, die allermeisten hatten sich freiwillig anders orientiert. Wer jetzt noch zur Vorlesung kam, hatte ein halbwegs angemessenes Bild vom Physikstudium, von den Ansprüchen, von der eigenen intellektuellen Leistung.
Der nächste Meilenstein dann das Vordiplom, Klausuren, mündliche Prüfungen. Die Prüfer zwar wohlwollend, aber hinsichtlich des Wissens auch fordernd. Hier mischte sich dann die Erkenntnis ein, dass es überhaupt keinem Menschen möglich sein kann, den gesamten Stoff auf Lager zu haben. Eine Mischung aus Lernen auf Lücke, eine Lernstrategie in Richtung guter Überblick über die Zusammenhänge und ein erhebliches Maß an psychischer Belastbarkeit waren für ein gutes Bestehen notwendig.
Ab diesem Punkt passierte nicht mehr viel. Wer sich durch das Grundstudium gekämpft und das Vordiplom bestanden hatte, der manövrierte sich auch erfolgreich durch die folgenden Jahre. Man konnte jetzt Schwerpunkte setzen, Vertiefung in besonders interessante Nebenfächer vornehmen oder sogar mal ein ruhiges Semester für die (nennen wir es mal) Konsolidierung des angesammelten Wissens einlegen. Die Zeit führte dann jeden zum Diplom, welches das verbliebene tapfere Häufchen praktisch ohne Durchfaller bestand.
Einige Aspekte bei diesem Rückblick finde ich erwähnenswert. Offensichtlich reicht es nicht, nur fachkompetent zu sein, weitere hilfreiche (um nicht zu sagen notwendige) Eigenschaften sind Durchhaltevermögen, Frustrationstoleranz und die Erkenntnis, dass einem keiner besser helfen kann als man sich selber.
Und daraus abgeleitet für das spätere Leben, dass es weniger auf den Stoff ankommt, als auf den geschickten Umgang damit, das Verständnis, dass niemand – auch man selbst nicht – wirklich bis in die Tiefe kompetent ist, und dass man grundsätzlich und alles bei wissenschaftlicher Betrachtung in Frage stellen muss.
Womit ich beim Abschluss bin. Denn natürlich ist nicht nur jeder Mensch anders, auch die Erwartungen sind je nach Umfeld sehr unterschiedlich. Im Wissenschaftsbetrieb kann man davon ausgehen, dass sich je nach Spezialisierung nur eine Handvoll Menschen auf dem Globus mit einem Thema auskennen. Ebenso ist es selbstverständlich, jede neue Erkenntnis auf den Prüfstand zu stellen, Theorien soweit möglich durch Experimente zu stützen, Experimente durch Theorien zu untermauern.
Doch wie anders funktioniert das in der freien Wirtschaft. Wenn dort ein Physiker vor den Vorstand eines Unternehmens tritt und ihm wahrheitsgemäß erklärt, dass seine erarbeitet Lösung unter den formulierten Bedingungen voraussichtlich eine Erfolgsquoten von 80 % hat, dann wird es eng. Dann nämlich, wenn ein weniger wissenschaftlicher und vielleicht sogar weniger fachkundiger Berater mit leuchtenden Augen berichtet, dass sein Vorschlag bisher bei allen Kunden perfekt funktioniert hat – Referenzen anliegend. Wer den Wissenschaftler im Herzen trägt, wird sich mit dem praxistauglichen Umgang mit dieser augenscheinlichen Kurzsichtigkeit schwer tun, sollte aber schnell lernen, eine geeignete Präsentationsform zu finden. Nämlich eine, die sicher wirkt, dabei aber auf dem Boden wissenschaftlicher Qualität bleibt.
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