Dienstag, 7. Juni 2022

Ich springe mal woanders ab

Wer immer an derselben Stelle abspringt, landet auch immer an derselben Stelle.

Ein wunderbares Bild, ich male mir aus, wie ich auf der Aschebahn beschleunige und genau an der markierten Stelle meinen Schwung in einen Weitsprung ins Sandbett verwandle. Natürlich am einen Tag etwas weiter, am anderen etwas kürzer. Aber im Wesentlichen immer ähnlich. Kenne ich den Sandkasten in- und auswendig, dann hat dieser Sprung etwas von Routine, ja, die kann man trainieren und damit ein wenig größere Distanz überwinden. Überraschungen gibt es aber nicht.

Anders sieht es aus, wenn ich mal von einer anderen Stelle abspringe. Plötzlich lande ich im Sandkasten auch an einer neuen Zielstelle, da ist der Sand noch unberührt.

Ich halte es für einen äußerst spannenden Ansatz, auch seinen Lebensalltag so zu gestalten. Jeder will etwas erleben, will Abwechslung in sein Leben bringen. Lebt aber immer gleich, reagiert gleich, trifft immer prinzipiell gleiche Entscheidungen. Da kann ja keine wesentliche Veränderung herauskommen.

Mal ein Beispiel: Traditionell rufe ich wütend den Absender einer E-Mail an, die mich verärgert hat. Ein Wort gibt das andere, meine Meinung bin ich zwar losgeworden, aber die Nachwirkungen in Form gegenseitiger Beleidigung sind langanhaltend. Und jetzt mal anders. Ich nehme den Telefonhörer zunächst gar nicht in die Hand, lasse die Nachricht auf mich wirken und frage mich, wie ich humorvoll darauf reagieren könnte. Und dann rufe ich an, strahle meinen Gesprächspartner durch das Telefon an und verblüffe ihn, indem ich statt Schimpfkanonen ein paar freundliche Worte finde. Nicht einfach, aber der Effekt ist unbeschreiblich positiv.

Das ist übrigens nicht nur Theorie. Mein Schlüsselerlebnis war die Begegnung mit einer temperamentvollen Mitbewohnerin, es ging um irgendein Thema, vermutlich wegen der Wohnungsreinigung. Wütend und lautstark steigerten wir uns gegenseitig in eine wilde Auseinandersetzung, keiften uns an und verschwanden schließlich wutschnaubend in unseren Zimmern. Und dann der Tag, an dem ich dieses wildgewordene Wesen in den Arm nahm und sie einfach drückte und versicherte, wie schön doch die gemeinsame Zeit in der WG sei. Schluss mit der Schreierei, wir hielten uns fest, ich glaube es flossen sogar ein paar Tränchen, und wir hatten unsere emotionale Beziehung auf neue Füße gestellt. Erst durch dieses geänderte Herangehen war zu Tage gekommen, dass sie bei allem Gezeter eigentlich meine Anerkennung und meine Freundschaft einklagen wollte.

Mut also, mal eine ganz andere Reaktion auszuprobieren. Fast möchte ich sagen, dass man gar nicht verlieren kann. Schlimmstenfalls hat man etwas über sich und den Anderen erfahren und gelernt, dass dieser Absprung noch nicht von der optimalen Stelle erfolgt ist. Was nicht schlimm ist, weil man ja hoffentlich noch eine Zeit lebt und einen anderen Sprung probieren kann.

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