Mittwoch, 4. Oktober 2023

Eine Bahnfahrt, die ist lustig

Kleiner Blick zurück, nennen wir es mal Stufe 0: Die Zeit der Kurs-Bücher, Bahnhofs-Vorsteher, Aushang-Fahrplänen und Papier-Fahrkarten. Alles hatte einen Bindestrich, aber auch eine Ordnung. Man musste zum Bahnhof laufen, sich in der Schlange vor dem Schalter einreihen, das Reiseziel angeben und bekam von einem mehr oder weniger unfreundlichen Beamten eine Verbindung zusammengestellt und ein Ticket verkauft. Die Reise selbst verlief eher unspektakulär, hatte man sich in den ersten Zug gesetzt begann trotz diverser Umstiege der entspannte Teil und die weitgehend pünktliche Fahrt.

Stufe 1: Man konnte sich im Vorfeld über die Reise informieren, mit einer gekauften CD seine Verbindung zusammenstellen. Für nicht zu komplizierte Fahrten war der Kauf einer Fahrkarte am Automaten möglich. Allerdings wurden die Verbindungen unpünktlicher, insbesondere Anschlüsse neigten dazu, Wackelkandidaten zu werden. Lieber einen Zug früher starten, die Umstiegszeit nicht zu knapp kalkulieren. Eine normale Reise war möglich, aber immer mal wieder musste man den Schaffner nach Alternativen fragen. Mit ein wenig Kreativität und nicht zu knappem Zeitpuffer ließ sich die Entspannung einer Bahnfahrt erhalten.

Stufe 2: Sowohl Beratung, Verbindungswahl als auch Fahrkartenkauf wurden ins Internet verlagert. In Kombination mit Zugriffsmöglichkeit über das Smartphone waren Echtzeitdaten verfügbar. Was allerdings in der Praxis nicht immer zuverlässig funktionierte. Verspätungen und Zugausfälle waren jetzt viel häufiger, aber von überall abrufbar. Als Fahrgast war man jetzt Teil der Prozesse, recherchierte, plante, durchlief Was-wäre-wenn-Szenarien und ließ sich am Ende doch zwangsweise von der Realität überraschen. Um eine vorgegebene Uhrzeit am Ziel einhalten zu können war die Buchung einer komplett früheren Reise mit zeitlichen Übergangsmöglichkeiten in die eigentlich erforderliche Planung notwendig. Entspannung wich einer Daueranspannung, ständiger Blick auf Uhr, Navigator-App, kurzfristigen Umplanungen und Improvisation neuer Verbindungen.

Stufe 3: Die Verlässlichkeit der Informationen wurde der Unzuverlässigkeit der Zugfahrten angepasst. Die Fahrten verliefen weitgehend unabhängig von Fahrplänen, nicht nur die Fahrgäste, auch die Bahnmitarbeiter waren zu Opfern instabiler Abläufe, Häufung von Störung und mangelhaften Ersatz- oder Ausweichmöglichkeiten geworden. Zur Einhaltung eines wichtigen Termins war eine Vorabend-Anreise dringend geboten. Zur planerischen Unsicherheit kam noch eine erhebliche emotionale Komponente, die sich je nach Charakter in Aggression oder Resignation äußerte. Selbst überzeugte Bahnkunden stellten sich die Frage, ob der Individualverkehr eine sinnvolle Alternative darstellt oder man nicht auf Reisen verzichten kann.

Stufe 4: Die Bahn hat sich selbst abgeschafft, nach Auswertung von Verspätungsdaten, Fahrgastbefragungen und rückläufiger Nutzung, jahrzehntelang herausgezögerter Materialwartung und nicht mehr aufzufangendem Investitionsstau wurde der Verkauf aller mobilen Objekte ins Ausland in die Wege geleitet. Ehemalige Mitarbeiter wurden in die Burnout-Betreuung überstellt, der Umstieg vom altmodischen Schienenverkehr zu Transport-on-demand als zeitgemäßer Fortschritt gefeiert. 

Bahnfahrt, die ist lustig

Was am Beispiel der Deutschen Bahn jedem direkt aus der Alltagserfahrung vor Augen ist, das erleben wir alle aber leider auch in zahlreichen anderen Branchen. Fast möchte ich sagen, es begleitet mich in jeder Hinsicht durch den Tag. Menschen, die früher zuverlässig bereit standen werden sukzessive schwieriger planbar, ein Ausweichen auf andere Personen und Neuplanung von Terminen ist mittlerweile integraler Bestandteil meines Tages. Je nach Tätigkeit und Charakter der Beteiligten sehe ich vieles auf Höhe von Stufe 2 – und lesen wir doch noch mal, was da über die emotionale Komponente steht: „Entspannung wich einer Daueranspannung, ständiger Blick auf Uhr, Navigator-App, kurzfristigen Umplanungen und Improvisation neuer Verbindungen.“

So erhöht sich also nicht nur die Arbeitslast und führt zu qualitativer und quantitativer Überlastung, durch Rückkopplung der involvierten Strukturen verschärft sich die Situation noch weiter. Vielleicht ist das Festhängen am Gedanken der Planbarkeit einfach nur altmodisch, ein weiter-so schlicht nicht zu erwarten. Nach dem Verschleiß des Materials sind unübersehbar auch die menschlichen Ressourcen zunehmend angeschlagen. Die Strategen nehmen die Änderungen wahr, gehen aber davon aus, den Änderungen mit bewährten Mitteln begegnen zu können. Das ist aber bei komplexen Systemen – wie wir sie hier zweifellos vorliegen haben – grundsätzlich nicht möglich.

Um unsere technische und menschliche Umwelt angemessen gestalten zu können und mit ihr in die Zukunft zu gehen erleichtert es wie immer, auch hier einen vereinfachten Ansatz, ein Modell, zu verwenden. Und dafür kann man in diesem Artikel noch mal weiter oben bei der Deutschen Bahn ansetzen, sich fragen, wann und womit der Untergang begonnen hat und auf welcher Stufe welches Gegensteuern noch gegriffen hätte.

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