Dienstag, 23. Februar 2021

Die unterschiedlichen Akku-Technologien

Wer meine Beiträge verfolgt, kennt meine Liebe für Analogien. Wie oft können wir Menschen – auch und gerade in der Technik – von der Natur lernen. Ist es nicht faszinierend zu sehen, was sich schon tausende von Jahren vor uns entwickelt hat und uns ein inspirierendes Vorbild sein kann.
Aber heute drehen wir den Spieß mal um. Ich blicke in die Technik und berichte, was ich aus ihr für mich lerne. Und zwar aus dem Themenfeld der Akkumulatoren, im Volksmund kurz als Akku bezeichnet und in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Und das biologische Gegenstück ist meine geistige und körperliche Energie.

Zunächst mal die triviale Parallele, dass wir nicht pausenlos schaffen können (Energie entnehmen), sondern Ruhephasen brauchen. Diese organisieren wir üblicherweise in vier Stufen, nämlich in Form kurzer Unterbrechungen während des (Arbeits-)Tages, den Nachtschlaf, freie Tage (meist Wochenenden) und längere Regeneration, nämlich Urlaub. Alles dies dient dazu, den inneren Akku aufzuladen.

Zweite schon spannendere Frage ist, was in diesen vier genannten Stufen passiert. Zum einen wird in jeder von ihr Energie getankt, Luft geholt, es kann gestärkt weitergehen. Aber begleitend wird stets auch die letzte Tätigkeit verarbeitet. Gedanklich werden die vergangenen Aktivitäten nachbearbeitet, bewertet, weiter bedacht, gespeichert. Der kurze Weg von einem Meeting ins nächste reicht schon zur Anreicherung des Gehörten. Und auf anderem Niveau kommt man auch im Urlaub mal „auf andere Gedanken“. Selbstverständlich wird aber auch die körperliche Entwicklung insbesondere in den Pausen vorangetrieben, Sportler wissen um die Wichtigkeit des geschickt gewählten Trainingsintervalls für das Ergebnis (ein Dauertraining ist nicht zielführend).

Und drittens können wir von den Akkus noch etwa sehr Wichtiges lernen. Insbesondere die Akkus der ersten Generation (NiCd) mussten nicht nur regelmäßig, sondern auch gut gesteuert geladen werden. Weder durften sie allzu leer werden, noch durfte man sie dauerladen. Gut ausschöpfen, dann vollständig laden und wieder bis zu einem bestimmten Punkt nutzen. Es gab sogar darauf spezialisierte Ladegeräte, sogenannte Akkutrainer oder Akkujogger, die einen alternden Akku durch einen gezielten Lade-Entladezyklus wieder etwas verjüngen konnten.
Mein Körper muss also wie solch ein Akku immer mal wieder ein wenig Energie tanken können. Regelmäßig, aber nicht permanent, das ist schädlich. (Menschen mit Boreout (Langeweile-Syndrom) wissen, was ich meine.) Wenn ich abends nach getaner Arbeit körperlich und oder geistig erschöpft bin, dann ist Ausruhen in für mich geeigneter Form angesagt. (Der Einfachheit halber erzwingt mein Körper das, indem er nach Schlaf verlangt.)
Und nach einer Arbeitswoche ist es unumgänglich, mal einen Tag Pause einzulegen. (Die Notwendigkeit ist übrigens in allen mir bekannten Religionen erkannt und deshalb als Regel manifestiert.)
Doch das reicht natürlich nicht wirklich, nach einiger Zeit dieser „kleinen Ladevorgänge“ muss mal wieder eine Vollladung her. Urlaub also, möglichst zum richtigen Zeitpunkt, mit dem richtigen Schwerpunkt, in der erforderlichen Dauer. (Was, wo, mit wem: Das spielt keine Rolle bzw. ist ausgesprochen individuell.)
Nebenbei möchte ich anmerken, dass gerade diese sehr wichtige Form der Erholung oft durch allerlei Randbedingungen nicht optimal gestaltet werden kann. Das kann am familiären Umfeld, an den finanziellen Möglichkeiten, an äußeren Zeitvorgaben oder allen möglichen anderen Dingen liegen.

Praktische Umsetzung der Überlegung ist im ersten Schritt eine sorgfältige Analyse hinsichtlich der Belastbarkeit meines Körpers. Erst unter Kenntnis dieser „Akkukapazität“ kann ich steuern, wie er geladen werden muss. Ich kenne ja aus Erfahrung meinen Schlafbedarf, die erforderlichen Pausen und die typischen Belastungen (Energiebedarf) meiner Tage.
Aus diesen Faktoren leite ich das Training meines Akkus ab, ganz nüchtern wie das Programm eines Akkujoggers. Je besser die Analyse und insbesondere die Umsetzung des Vorgehens mit meinem Energiehaushalt gelingt, desto länger habe ich Freude an meinem „Körperakku“. (Im Umkehrschluss führen Fehler an dieser Stelle zu einer Vielzahl körperlicher oder seelischer Probleme: Gelenkschäden, Blutdruckstörungen, etc.; Burnout, Depression etc.)

Mittwoch, 17. Februar 2021

Willkommen in der geistigen Fastenzeit

Nein, ich will nicht die üblichen Überlegungen zum Fasten im körperlichen Umfeld anstellen. Da gibt es ja genügend Anregungen vom klassischem Ansatz des Verzichtes auf bestimmte Nahrungsmittel und Genüsse über (temporäre) Änderung von Gewohnheiten bis hin zu asketischen Herausforderungen.

Doch hier und heute eine andere Sicht. Es geht um Fastenzeit im Denken. Natürlich nicht, das Denken einzustellen, ganz im Gegenteil: Das Denken kultivieren, und manche Gedanken bei der Gelegenheit vollkommen ausblenden.

Steigere ich mich vielleicht in manchem Thema in irgendeine Sichtweise hinein, fühle mich als Opfer, obwohl ich eigentlich nur Beteiligter bin und meine Mitmenschen mir gar nichts Böses wollen?

Spreche (und denke) ich schlecht über eine Person und hintertreibe sie ohne jegliche Not?

Anders formuliert: Was sicher beim Sprechen bekannt ist („erst denken, dann reden“), das kann man ja auch eine Stufe vorziehen: Erst überlegen, ob ich es denken muss, dann erst Gedanken daran verschwenden. Das kann im Einzelfall einen Verlust darstellen, von mir aus die Freude am Lästern, aber deshalb ist es ja auch eine Art Fasten.

Dienstag, 9. Februar 2021

Liebe macht blind

Sie war die Schönste in der Klasse. Angela. Nomen est omen, mit ihren langen schwarzen Haaren, feurigen Augen und wunderbarer Figur sah sie aus wie ein Engel - der Traum aller Jungs. Wenn sie einen anlächelte, hörte das Gehirn auf zu arbeiten. Und dann war sie auch noch intelligent dabei und schrieb die besten Noten.
Ich kann mich nicht erinnern, wie ich es hinbekommen habe, aber eines Tages waren wir zusammen. Meine Freunde konnten es nicht fassen, ich irgendwie auch nicht, aber es war traumhaft schön. Auf jeder Party war sie der Eyecatcher, ich verblasste natürlich neben ihr, aber das war mir egal. Es waren tolle Monate mit ihr und natürlich konnte das nicht auf Dauer so gehen, der Traum ging zu Ende.
Als mein bester Freund mir erzählte, dass sie längst mit einem anderen Jungen ginge, wollte ich es aber nicht glauben. Eigentlich glaubte ich es sogar, aber ich wollte es nicht wahr haben. Es passte ja alles zusammen, dass sie oft keine Zeit mehr für mich hatte, dass sie immer wieder abwesend wirkte und längst nicht mehr so aktiv wie anfangs zu Partys drängte.

Wenn ich heute daran zurückdenke, dann nicht in Trauer oder verletzter Eitelkeit. Selbst der „Betrug“ an unserer Beziehung schmerzt mich nicht. Es ist viel mehr das Erstaunen darüber, dass ich es nicht gesehen habe, nicht sehen wollte, entgegen der Tatsachen an ihr festgehalten habe. Sie hat mich blind gemacht, den rationalen Teil meines Gehirns ausgeschaltet. Es reichte noch nicht einmal, dass es bereits alle anderen wussten und mehr oder weniger explizite Andeutungen machten. Erst als mein Freund mich wachrüttelte, war ich nach anfänglichem Widerstand bereit, den Tatsachen ins Auge zu sehen und sie zu akzeptieren.

Oft erlebe ich das auch heute noch, weniger bei mir (zumindest merke ich es nicht), als bei vielen Mitmenschen. Sie verrennen sich in Sichten und Standpunkte, von denen sie von alleine nicht mehr abrücken. Geradezu fanatisch werden Meinungen vertreten, bar jeder vernünftigen Betrachtung und so nachdrücklich, dass sie sogar manche Freundschaft in Gefahr bringen.
Je nach Tiefe der (ich nenne es mal wohlwollend) Liebe kann selbst ein enger Vertrauter die Situation nicht retten. Sie kann sich bis in pathologische Zustände steigern, in denen andere Meinungen keinen Zugang mehr zu diesen Menschen haben. Sie lehnen andere Sichtweisen a priori ab, Andersdenkende werden als Feinde identifiziert. Die eigene Meinung zu verbreiten wird als Mission verstanden.

Mal so ein aktuelles Praxisbeispiel ist die Elektromobilität. Der Umgang mit diesem Thema ist eine Melange aus Umweltbewusstsein, politischer Steuerung über Fördermittel, eingeschränkte Sicht auf die Sachlage und dem Mitmachen von Modetrends.
So begeistert für die Sache wie ich seinerzeit für Angela. Dass sie längst mit einem anderen knutscht, dass die Mobilität sich schon anschickt, andere Wege zu gehen: Das zu akzeptieren erfordert einen Außenimpuls – den man aber auch an sich heranlassen muss.

Mit anderen Worten sind gerade die Begeisterung für eine Sache, der Eifer und die glühende Begeisterung gut und richtig. Aber je freudiger ich mich hineinsteigere, je intensiver der Kuss ist, desto offener muss ich mich anderen Meinungen gegenüber zeigen und desto aufmerksamer auf vielleicht in mir aufkeimenden Fanatismus (in diesem Wort steckt auch der „Fan“) achten.

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Dienstag, 2. Februar 2021

Wieder was gelernt

Jedes Jahr blühen auf der Terrasse wunderschön meine Dipladenia. Sie ranken hoch, bilden unermüdlich rote Blüten und sind für jeden Besucher ein Blickfang. Selbst im Herbst sind sie noch eine Augenweide und zaubern weiter Blüte nach Blüte, wenn man sie ein wenig düngt, hegt und pflegt. Aber dann kommt der Winter. Und da wird es dann schwierig.
Ich kann mich partout nicht von diesen wunderschönen Pflanzen trennen und jedes Jahr wieder, sie zu überwintern. Mal warm, mal kalt, mal trocken, mal nass… aber was ich auch mache, im Frühjahr ist es nur noch ein heruntergekommener Strunk, den ich zur Grünabfuhr bringe.

Das ist diesmal anders. Ich habe nachgelesen, was für eine Pflanze die Dipladenia von Natur aus ist, und wo sie zu Hause ist. Und da wurde mir plötzlich alles klar: Sie ist nämlich eine Tropenpflanze. Ich habe mich in die Pflanze versetzt, mich gefragt, wie sie in ihrem optimalen Lebensraum über den Winter kommt und welche Bedingungen dort herrschen. Ohne jetzt auf Einzelheiten einzugehen, konnte ich aus dieser simplen Information die gesamte Winterpflege herleiten, ohne weitere Recherche und lange Pflegeanleitungen selbst verstehen, ob sie jetzt Dünger braucht, wieviel Wasser sie möchte, wieviel Licht, und welche Temperatur ihr genehm sein dürfte.

Also hier wie dort. Man braucht manchmal gar nicht das große Handbuch, auch nicht die Details zum Charakter eines Mitmenschen. Meist reicht das richtige Stichwort, das sozusagen die große Überschrift ist, die über allen Kapiteln steht oder anders formuliert: Die Basis, von der ich den Umgang mit Einzelaspekten ableiten kann.
Wir erleben diese nützliche Vereinfachung und Rückführung auf eine Zentraleigenschaft übrigens auch in der Astrologie, wo (bei seriöser Verwendung) die Sternzeichen als Gruppierungshilfe für die Charakter von Menschen verstanden werden. Wenn man beispielsweise erkennt, dass ein Mitmensch vom Grundtyp eine „Zwilling“ ist (und dies bei Bedarf noch über einen sogenannten Aszendenten feinjustiert), braucht man kein Horoskop mehr, um das Verhalten und die Reaktion abschätzen zu können. Natürlich nicht bei jedem einzelnen Handgriff, aber als Gesamtverhalten betrachtet. 
Es ist also genauso, wie ich jetzt gelernt habe, die Pflege meiner Dipladenia grundsätzlich richtig zu betreiben.

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Dienstag, 26. Januar 2021

Man stirbt nicht an einem Oberschenkelhalsbruch – oder doch?

Die moderne Medizin ist da mächtig fit: Selbst bei älteren Menschen mit verschlissenen Knochen kann man noch sehr gut und erfolgversprechend einen Bruch des Oberschenkels reparieren. Wenn keine besonderen Vorerkrankungen existieren und die Operation routiniert und gut von statten geht, dann läuft alles gut. Daran stirbt man nicht.

Dennoch ist eine solche Fraktur – eigentlich eher die nachfolgende Phase – oft der Anfang vom Ende. Der alternde Körper hat es (physiologisch) viel schwerer, die Narkose zu verkraften. Es dauert oft mehrere Tage oder sogar Wochen, bis Trugbilder und Halluzinationen wieder verschwinden. Ganz besonders schwächen aber auch die eingeschränkte Bewegung und der damit einhergehende Muskelabbau. Im fortgeschrittenen Alter ist der Wiederaufbau ein sehr schwieriger und überraschend langwieriger Prozess. Parallel beobachtet man einen erheblichen Rückgang der geistigen Fähigkeiten, Demenz wird verstärkt.
Der alte Mensch beginnt zu kränkeln, der körperliche und geistige Abbau gewinnt an Fahrt, er gerät in eine kaum aufzuhaltende Abwärtsspirale, die früher oder später in Bettlägerigkeit endet und schließlich zum Tode führt.

Diese bedauerliche Systematik beobachte ich auch im aktuellen Zusammenhang mit der Corona-Krise. Auch hier sterben die wenigsten Geschäfte oder Branchen direkt an der Krise. Sie haben eine schwere Zeit, ja, aber sie gehen davon nicht unter. Oder doch?

In Analogie ist es die Veränderung des gesamten Systems. Die Konsumenten stellen fest, dass für sie seit Jahren selbstverständliche und nie in Frage gestellte Verhalten oder die Inanspruchnahme bestimmter Dienstleistungen (vorübergehend) nicht gehen… sie suchen nach Alternativen und finden (notgedrungen) neue Wege, die sie auch nach Ende der Krise nicht verlassen werden – es findet ein generelles Umdenken statt.
Beispiel: Da wir nicht ins Kino können, kaufen wir uns große Fernseher mit Dolby-Sound, die wir natürlich auch dann weiter nutzen, wenn die Kinos längst wieder geöffnet haben. 
Oder: Bisher bin ich ins Fitness-Studio gegangen, aber die Kombination aus dem gekauften Ergometer, ein paar Hanteln und dem Spaziergang an der frischen Luft – demnächst auch wieder mit dem besten Freund – stellt eine dauerhafte Alternative dar.

Und abschließend noch ein Transfer. Der Wiederaufbau, sprich die Zurückeroberung von Kunden, ist ähnlich mühsam wie ein Muskeltraining bei einem Achtzigjährigen. Jetzt heißt es klug mit dieser Erkenntnis umzugehen, ehrlich einzuschätzen, ob das eigene Angebot nur vorübergehend oder perspektivisch auch in Zukunft nicht in Anspruch genommen wird. Ist der Markt weitergezogen, das Konsumverhalten hat sich dauerhaft verändert, oder können die Abnehmer nur temporär nicht mit den Anbietern ins Geschäft kommen?
Falls sich die Marktlage bewegt hat, ist jetzt der richtige Moment sich auf die „Zeit danach“ mit geändertem Produktportfolio einzustellen. Bei vorübergehender Störung hingegen gilt es, an den Kunden zu bleiben, die geschäftsfreie Zeit bestmöglich mit Kommunikation und Kontakten zu füllen.

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Mittwoch, 20. Januar 2021

Die Quadratur meines Fahrlehrers

Jung, wie schnell bist Du? – 60.
Bremsweg? – 36 Meter.
Wie schnell darfste hier? – Ähm… 90.
Bremsweg? – 81 Meter.
Wieso soviel mehr? Das ist doch nur die Hälfte schneller. – Weil es quadratisch gerechnet wird und neben dem Quadrat der Differenz noch ein Mischterm dazukommt.

Jetzt hatte ich Ruhe, das war meinem Fahrlehrer deutlich zu mathematisch. Er hatte einfach keine Lust, sich mit einem Abiturienten über binomische Formeln zu unterhalten. Also bekam ich den Rest der Fahrstunde einen Vortrag über ein todsicheres Verfahren, um im Lotto zu gewinnen. Warum er bislang noch nicht wirklich abgeräumt hatte, konnte er mir allerdings nicht sagen.

Aber schauen wir doch mal, was bei der Frage nach dem Bremsweg mathematisch passiert ist. Dummerweise arbeitet unser Gehirn von Natur aus linear, es extrapoliert also mit einem einfachen Faktor; Hochrechnung mit Potenzen ist nicht vorgesehen. Entsprechend erwarten wir spontan, dass bei einer um die Hälfte höheren Geschwindigkeit auch der Bremsweg um die Hälfte länger wird. 
Und selbst wenn jemand den Begriff „Quadrat“ ins Spiel bringt, kommen wir meist im ersten Wurf nur auf einen Teil der richtigen Lösung. Dann rechnen wir mit 6*6 = 36 (für die Quadratur der 60 Stundenkilometer) plus 3*3 = 9 (für die Erhöhung um 30 Stundenkilometer), also in Summe als Bremsweg 45 Meter, ziemlich moderate Steigerung gegenüber der Strecke bei 60 Stundenkilometer. 
Es fehlt nur zu unserer Schande dieser harmlos scheinende Mittelteil der binomischen Formel. Nichts quadratisch, nur ein Produkt. Aber das hat es in diesem Fall in sich: 2*6*3 = 36 Meter! Aus den „gefühlten“ 9 Metern mehr werden dadurch in der Praxis glatt 45 Meter!

Nun schreibe ich das nicht, um eine längst vergessene Stunde der Mittelstufen-Mathe zu wiederholen. Ich komme darauf, weil es ein anschauliches Beispiel dafür ist, wie einen das mathematische Gefühl im Alltag in die Irre führen kann. Selbstverständlich gilt diese Diskrepanz nämlich nicht nur für Bremswege, sondern schlicht für alle Vorgänge und Messungen, welche nichtlinear von ihrer Ordinate abhängen. Und das sind erstaunlich viele – um nicht zu sagen: fast alle.

Schlussfolgerung: Echtes Gefühl für Zahlen kann man nicht mal so eben aus dem angeborenen Schatzkästchen entwickeln. Vielmehr braucht man dafür ebenso ausführliche Beschäftigung wie bei den emotionalen Beziehungen zu seinen Mitmenschen. Da erwartet man ja auch nicht, dass jede Reaktion genau linear mit dem Auslöser skaliert.

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Mittwoch, 13. Januar 2021

Bei komplexen Systemen gibt es keine „Best practice“

Ich berichte heute von einem typischen Fall, in dem unser Gehirn völlig hilflos agiert, uns aber gleichzeitig vorgaukelt, alles im Griff zu haben. Die psychologische Literatur ist voll davon. Beispiele hierfür kennen wir unter anderem von optischen Täuschungen, Erinnerungen (Zeugenaussagen) oder eben komplexen Systemen.

Zur kurzen Wiederholung: Komplexe Systeme sind bei mir Betrachtungsobjekte mit mehreren (meist nichtlinearen) Einflussfaktoren, welche mit verschiedenen Gewichtungen eingehen, dabei Rückkopplungen kennen und zum Teil selbst untereinander verbunden sind. Kurz: Das ganze Gespinst ist selbst für Experten nicht geschlossen darstellbar, eine Vorhersage der Systemreaktion bei Veränderungen ist nicht nach dem Wenn-Dann-Prinzip möglich.

Soweit sicher nicht überraschend, dass auch die aktuelle Pandemie zu den komplexen Systemen gehört. Und damit auch nicht überraschend, dass es selbst Experten nicht gelingen kann, zuverlässige Vorhersagen zu treffen. Was aber andererseits auch auf der Hand liegt: Gute Erfahrungen in irgendeiner Phase der Pandemie lassen sich nicht unbedingt als „Best Practice“ wiederholen. Hat der Lock-down in der ersten Welle ein zufriedenstellendes Ergebnis beschert, dann neigt der Mensch dazu, genau diese Maßnahme zu wiederholen – sie hat ja schon einmal geholfen. Nur haben sich allerlei Systemparameter mittlerweile verändert. Es ist eine andere Jahreszeit mit gewissen Auswirkungen und die Menschen sind müde von den Vorgaben, um mal zwei Punkte herauszugreifen. Und deshalb ist es zwar menschlich, auf die zweite Welle wieder mit einem Lock-down zu reagieren, aber systemimmanent leider kaum zu erwarten, dass er einen vergleichbar positiven Effekt bringt.

So traurig es auch klingen mag. Der zweite Lock-down läuft ins Leere, die Wiederholung oder auch Verschärfung (viel hilft viel) führt nur sehr bedingt zum Ziel. Dem „gesunden Menschenverstand“ dürfen wir hier nicht glauben. Vielmehr sind Experten für den Umgang mit komplexen Systemen die notwendigen Fachleute der Stunde, als Modell bietet sich das Cynefin-Framework (Umgang mit komplexen sozialen Systemen) an.

Damit es nicht zu akademisch bleibt. Praktische Anwender dieser Erkenntnisse sind zum Beispiel Feuerwehrleute, die haben es bei Einsätzen auch mit komplexen Systemen zu tun. Eine gewisse Analogie erkennt man im Entstehen einer Pandemie, ihrem „Löschen“ und dem Wiederaufflammen (zweite Welle). Unsere Feuerbekämpfer kennen das, und wissen auch, wieso es eine Brandwache gibt und wie mit Glutnestern umzugehen ist.

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