„Ping“ macht die Schachuhr. Ich starre auf die Figuren auf dem Brett, nebenbei bemerke ich, wie sich mein Gegner entspannt zurücklehnt. Er hat seinen Zug gemacht, jetzt bin ich dran. Ich schaue die Konstellation an, gehe im Geiste meine Optionen durch. Ich könnte mit dem Turm vorpreschen, auch ein Zug mit einem Bauern wäre möglich, aber am geschicktesten scheint mir eine Offensive mit dem Läufer. Wenn da nur nicht der gegnerische Läufer wäre, also vielleicht doch keine so gute Idee. Ich zögere noch, dann entscheide ich mich doch für den Läufer.
„Ping“ macht die Schachuhr. Mein Gegner ist dran, er beugt sich vor, ich versuche zu erraten, was er jetzt denkt. Sieht er die für ihn günstige Aufstellung, nutzt er die Gelegenheit oder plant er möglicherweise einen ganz anderen Verlauf. Nahezu zeitlupenlangsam greift er nach einem Springer. Wieso denn das? Einen Moment noch, dann steht der Springer an seinem neuen Ort.
„Ping“ macht die Schachuhr. Ich staune über seine Entscheidung. Zwei Gedanken beherrschen jetzt meinen Kopf. Zum einen frage ich mich, was mein Gegner im Schilde führt. Und zum anderen versuche ich, meine eigene Strategie fortzusetzen und seinen König in die Enge zu treiben, möglichst bis zur Bewegungsunfähigkeit.
Irgendwie kommt es mir bekannt vor. Wie im richtigen Leben, nur dass es dort kein Schachbrett gibt und keine abgeschlossenen Partien, die man am nächsten Tag noch einmal neu beginnen kann. Aber es gibt Mitmenschen, in die ich mich sachlich und emotional hineinversetzen muss. Welche Ziele verfolgen sie, was haben sie (mit mir) vor, warum handeln sie, wie sie handeln? Andererseits will ich natürlich nicht nur defensiv unterwegs sein, auch meine eigenen Bedürfnisse befriedigen und Ziele erreichen.Als ob es nicht schwierig genug wäre bin ich von Gegenspielern umgeben und es gibt Kollektiveffekte. Habe ich es mit einem Nachbarn verscherzt, dann ist es ziemlich wahrscheinlich, dass es zukünftig auch Konflikte mit seinen Freunden gibt. Aber auch die Frage, ob mich eine bis dahin fast übersehene Figur auf dem Schachbrett meines Lebens aus einer misslichen Situation rettet. Oder muss ich ein Bauernopfer bringen, für das große Ziel einen Verlust in Kauf nehmen. Doch nicht zu leichtfertig, denn jede Figur auf dem Brett kann früher oder später eine wichtige Rolle spielen.
„Ping“ macht die Schachuhr und reißt mich aus meiner Träumerei. Die Situation hat sich dramatisch zu meinen Ungunsten entwickelt, meine Unaufmerksamkeit ist hart bestraft worden. Heute wird das nichts mehr, ich gebe mich geschlagen und reiche meinem Gegner die Hand.
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