Mittwoch, 18. Dezember 2024

Alles kann, nichts muss

Saß ich dieser Tage mal wieder in einer Präsentation und wurde mit Powerpoint-Folien konfrontiert, die da auf einem hochauflösenden Bildschirm gezeigt wurden. Ich war hin- und hergerissen, weniger wegen der Inhalte, als vielmehr wegen der Faszination für den Bildschirm und die Präsentation. Begeisterung erfasste mich angesichts der beeindruckenden Schärfe des Bildes und der eindrucksvollen Anzahl der Bildpunkte.

Alles kann nichts muss
Aber aus einiger Entfernung, also von meinem Sitzplatz aus, konnte ich nur noch die Überschrift lesen, ein paar Kästchen erkennen und vermuten, dass die darin sichtbaren Striche bei näherer Betrachtung wohl Texte sein sollten. Warum nur, so fragte ich mich, warum müssen die Ersteller solcher Folien das volle Auflösungsvermögen ausschöpfen? Können sie nicht einfach die Regeln, die noch vor wenigen Jahren gültig waren befolgen, und auf Folien nicht mehr als sieben Zeilen Text (in der entsprechenden Größe) unterbringen?

Der Trend der Verkleinerung scheint sich fortzusetzen, endlich kann man alle Gedanken zu einem Thema auf einer Seite unterbringen. Die Informationen zu gliedern, aufzuteilen und so den Zuschauer auf eine Gedankenreise mitzunehmen, scheint keine Rolle zu spielen. „Hier ist mein Bild, es ist dein Problem, wenn du es nicht erkennen kannst“, scheint der Antritt der Folienmaler zu sein.

Selten lässt sich herausfinden, ob es die Verliebtheit in Details, die Begeisterung für ein Thema oder schlicht die Unfähigkeit ist, auf den Punkt zu kommen. Aber unabhängig davon wird der Betrachter (nennen wir ihn mal Kunde dieser Präsentation) so gar nicht in den Mittelpunkt gestellt, eigentlich sogar außer Acht gelassen.

So wie man einen Porsche auch mit 80 Stundenkilometern über die Landstraße fahren kann, gilt auch hier: nicht alles, was möglich ist, sollte man auch bis zum Limit ausschöpfen. Auch wenn der Bildschirm oder Beamer Schriftgröße 8 Punkt noch fehlerfrei darstellt, ist für das entspannte Betrachten eine gut lesbare Schriftart in Größe 20 Punkt wünschenswert. Für die Darstellung der (Kern-)Botschaft ist das allemal adäquat.

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Mittwoch, 11. Dezember 2024

Seitensprung oder Affäre?

In vielen Partnerschaften wird ein mehr oder weniger modernes Modell ausgelebt, bei dem sich die Beteiligten nicht verbindlich und fest aneinander binden. Da geht der Mann auch mal mit einer anderen Frau ins Bett oder die Frau sucht Erfüllung in den Armen eines Liebhabers. So oder so gibt es da einerseits die spontanen und kurzfristigen Aktionen (Seitensprung), andererseits aber auch die mehr oder weniger geplanten und andauernden Verbindungen (Affäre). Je nach Beziehung erfolgt dies heimlich oder sogar in offener Kommunikation, vielleicht sogar expliziter Übereinkunft.

Seitensprung oder Affäre
Der aktuell gesellschaftlich übliche Standard ist eine monogame Ehe, langsam aufgeweicht durch neuere Arten des Zusammenlebens. Eine gewisse Verbindung also zu Abläufen und Prozessen im Unternehmen. Hat man erst mal die Ordnung schriftlich fixiert, dann gibt es einen regulären Prozess, dem man folgen muss. Spontan und im Einzelfall kann man abweichen, das dann heimlich oder mit einer Sondergenehmigung. Der Seitensprung des Prozessmodells sozusagen.

Oder man weicht dauerhaft vom vorgesehenen Vorgehen ab. Schafft sich seinen eigenen Prozess, modifiziert die Schritte, deren Abfolge oder lässt sogar irgendwelche Teilprozesse aus. Das ist dann vielleicht sogar eine bessere Variante (vergleichbar des "richtigen" Partners), aber um im Bild der Beziehungen zu bleiben muss man darüber reden, ob man nicht zuerst die Scheidung einreicht. Den eigenen Prozess neben dem anderen laufen zu lassen widerspricht der geforderten Eindeutigkeit - die man natürlich in dem Zusammenhang gleich auch noch mit in Frage stellen kann.

Möglicherweise müssen wir uns von der klassischen Prozesskette verabschieden. Starr und geradezu altmodisch folgen wir Workflows, bleiben dabei, auch wenn sich längst die Sinnfrage stellt. Zementiert in Tools ist eine Änderung nicht möglich, fast wirkt es wie gemeinsame Kinder, die man erst mal weiterbetreuen muss, bevor man seiner Wege zieht.

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Mittwoch, 4. Dezember 2024

Sozialer Fußabdruck

Sozialer Fußabdruck

In Zeiten von Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein begegnet mir immer wieder der Begriff des ökologischen Fußabdrucks. Es geht darum, ob wir im Ressourcenverbrauch so bedacht agieren, dass nach unserer Anwesenheit auf der Erde möglichst wenig verbraucht, das heißt für die Nachwelt verschwunden ist. Oder auch andere Aspekte wie der Zustand der Umwelt, die wir in verschlechterter Form unseren Nachfahren überlassen.

Meist geht es um die Entnahme von Rohstoffen oder Treibmitteln in einer Geschwindigkeit, die über der natürlichen Produktion oder Regeneration liegt. Oder um einflussnehmende Faktoren wie mehr oder weniger schädliche Emissionen. Das alles sind Probleme, die sowohl den Einzelnen als auch die Gesellschaft oder sogar die gesamte menschliche Population betreffen. Dies ist bei der Betrachtung und Bearbeitung jedenfalls zu beachten und wird naturgemäß noch dadurch erschwert, dass es viele Interdependenzen gibt, die kaum zu überschauen sind.

Einen weniger beachteten Fußabdruck hinterlässt aber jeder Einzelne von uns auch im täglichen (Geschäfts-)Leben. Denken wir zum Beispiel an die Müllbeseitigung im öffentlichen Raum. Würden die Bürger die nicht mehr verwendeten Becher, Verpackungen und was auch immer in die (eigenen) Mülltonnen werfen, bräuchten wir keine Aufräumkommandos. Das gilt analog auch für die Kaffeetassen im Büro, die "eigentlich" jeder selbst spülen oder wegräumen könnte. Und schließlich noch als Beispiel die privaten Krankenversicherungen, die bereitwillig auch mehr oder weniger unnötige Untersuchungen und Maßnahmen bezahlen.

In den genannten Beispielen ist der Auslöser nur indirekt betroffen. Steht die nächtlich ausgetrunkene Sektflasche irgendwo in der Fußgängerzone, wird für die Entsorgung ja nicht der Konsument nach seinem Gelage zur Kasse gebeten. Auch der bequeme Kollege im Büro muss nicht mit einem Gehaltsabzug wegen fehlendem Einräumen der Spülmaschine rechnen. Das ist dann irgendwo zwischen Unachtsamkeit und Rücksichtslosigkeit zu verorten.

Noch schlimmer wird es, wenn der persönlich erhaltenen Zusatzleistung ein Anspruchsdenken vorausgeht. Ich zahle so viel für meine Krankenkasse und außerdem erwarte ich als privat Versicherter eine Premiumbehandlung. Da ist es doch selbstverständlich, dass ich auch teure Untersuchungen in Anspruch nehmen kann, egal wie groß der Erkenntnisgewinn beim Arzt sein mag. Was dabei viele übersehen, dass auch das dafür notwendige Geld ja irgendwo herkommen muss, und es ist nicht gerade überraschend, dass es gemittelt von allen Versicherten eingesammelt wird.

Anders ausgedrückt kann man festhalten, dass bei Missachtung der Auswirkungen, seien es Aufwände oder Kosten, diese auf eine Vielzahl von Personen umgelegt werden. Die Gemeinschaft zahlt am Ende für jeden Vorteil, den sich der Einzelne verschafft. Da sollte man sich immer mal wieder kritisch fragen, wie groß der ökologische, aber auch der ökonomische (bzw. soziale) Fußabdruck gerade ist.

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Dienstag, 26. November 2024

Gleichgewichte allenthalben

Wir Physiker schauen bekanntlich gerne Äpfel an. Wenn sie da so am Baum hängen, sind sie in einem Gleichgewicht aus Erdanziehung und Haltekraft des Stils. Die Kräfte sind ausgeglichen, der Apfel schaukelt vielleicht ein wenig im Wind, hängt aber gut an seinem Zweig. Bis ein kräftiger Windstoß kommt, der Stil bereits ein wenig brüchig und schon löst sich die Frucht und fällt herunter. Auch in dieser Flugphase ist wieder ein Gleichgewicht zu beobachten, hier spielt die Erdanziehung eine Rolle, aber auch der Luftwiderstand.

Im nächsten Moment prallt das Obststück auf dem Boden auf, bleibt liegen und ist natürlich wieder im Gleichgewicht. Er würde ja weiterfallen, wenn da nicht die Wiese im Weg wäre. So bleibt er ein paar Meter unter seinem bis gerade noch etablierten Hängeort liegen und verrottet langsam.

Alles in der Natur ist austariert, man kann Kräfte bestimmen, die auf ein Objekt einwirken und erhält ein Ergebnis, das alle Einflüsse berücksichtigt. Das gilt selbstredend nicht nur für die Kinematik, sondern auch für chemische Prozesse oder gar soziologische Phänomene. Beim Betrachten von Nahrungsketten begegnen wir der Einstellung von Gleichgewichten genauso wie bei der Populationsentwicklung. Gibt es von einer Sorte zu viele in einem bestimmten Raum, wird entweder die Nahrung knapp oder es werden Mindestabstände unterschritten, was zu Konflikten, Vertreibungen oder Ermordungen führt.

Gleichgewichte allenthalben
Dabei ist unbedingt zu betonen, dass sich die Gleichgewichte immer (meist sogar ziemlich schnell) und bestmöglich einstellen. Im mathematischen Sinne folgen sie einem Gradienten und finden den kürzesten Weg, um einen neuen Gleichgewichtszustand zu erreichen. Dies ganz ohne Wertung und absolut emotionslos. Es mag uns verstören, wenn wir die Veränderungen des Erdklimas beobachten, aber es ist die unbarmherzige Reaktion der Natur auf die Aktionen der Menschen.

Gleichgewichte sind a priori weder gut noch schlecht, auch die Erderwärmung ist zunächst neutral nur die Änderung einer Messgröße. Schlecht wird diese Entwicklung erst durch unsere Bewertung, die in den meisten Fällen - das möchte ich herausarbeiten - aus unserer persönlichen oder gesellschaftlichen, jedenfalls aber menschlichen Perspektive heraus erfolgt. Etwas naiv könnte man die Klimaveränderung sogar als wünschenswerte Verbesserung feiern, endlich kein Schnee mehr im Winter, statt dessen Sonne satt für alle Liebhaber dünner Kleidung.

Setzt sich die Entwicklung fort, müssen wir halt unser Leben daran anpassen, darin ist der homo sapiens ja geübt. Und wieder stellt sich ein Gleichgewicht ein, vielleicht wird auch unser Körper im Laufe der nächsten Generationen hitzeresistent, bekommen wir keinen Sonnenbrand oder Hautkrebs mehr. Und wenn uns das nicht gelingt, dann kennt die Natur kein Pardon und die Menschheit stirbt aus. Sicher nicht das, was wir wollen, aber aus etwas allgemeinerer Sicht eine ganz normale Gleichgewichtsreaktion. Die übrigens schon ganz viele Pflanzen- und Tierarten erlebt haben. Nur wir wollen es nicht wahrhaben, dass für uns dieselben Gesetze gelten wie für andere Spezies.

Abschließend noch die Anregung, auch den Umgang miteinander, Bevölkerungen oder Gemeinschaften als Systeme zu verstehen, die einen gewissen stabilen Zustand haben, ein Gleichgewicht eben. Was nicht bedeuten muss, dass eingependelte Zustände nicht wieder in Bewegung kommen können, wie das Bild vom bei Wind herabfallenden Apfel verdeutlicht.

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Mittwoch, 20. November 2024

Von Zauberern, Entertainern und Politikern

Auf den großen Bühnen dieser Welt stehen Frauen und Männer, die ihren Zuschauern etwas präsentieren. Ob sie nun ein Lied singen, große Reden schwingen oder etwas Artistisches vorführen - in jedem Fall kommt man zur Unterhaltung. Vielleicht ist es ein Zeitvertreib, eine Anregung oder das Staunen über irgendeine Leistung – jedenfalls sind wir im Normalfall freiwillig dort und lassen die Darbietung auf uns wirken.

Zauberer, Entertainer, Politiker

Dabei kann man diese Veranstaltung grundsätzlich in Zauberei und Entertainment unterteilen. Bei der reinen Unterhaltung ist alles offensichtlich, da ist kein Trick dabei, alles ist so zu verstehen, wie man es sieht. Ein Orchester arbeitet sich durch die Partitur, die entstehende Musik ist handgemachter Klang nach bestimmten Regeln und Vorgaben. Keine Überraschung, kein Hinterfragen der Entstehung. Nur wer es ganz genau nimmt, kann sich mit Musiktheorie oder gar der Physik der Tonerzeugung beschäftigen.

Ganz anders bei der Zauberei: Hier sehen und erleben wir etwas, was der Erfahrungswelt widerspricht. Ein Gegenstand verschwindet, ein anderer taucht unvermittelt auf, Waffen scheinen keine Verletzungen hervorzurufen. Doch das alles ist natürlich nicht echt, es gibt Tricks, mit denen der vermeintliche Magier uns nur vorgaukelt, dass so seltsame Sachen passieren. Im Kern funktioniert fast jeder Zaubertrick so, dass der Zuschauer abgelenkt ist und irgendetwas beobachtet, während an anderer Stelle etwas passiert. Man kann das zur Kenntnis nehmen und unter gelungener Illusion ablegen oder sich Gedanken machen, wie der Zauberer das wohl angestellt hat. Und ihn vielleicht sogar vor dem Publikum mit der Enthüllung seiner geheimen Vorgehensweise konfrontieren.

Da denke ich an Politiker: Die eine Fraktion handelt im Verborgenen, die Wähler werden abgelenkt, wir nehmen nur den Ausschnitt wahr, den die politischen Zauberer uns vermitteln wollen. Das läuft irgendwo zwischen unvermeidlicher Hintergrundarbeit, mangelhafter Kommunikation und Klüngelei. Kommt so ein Aspekt entgegen der Planung ans Tageslicht, wird es meist peinlich für die Akteure. Wir haben ihren Zaubertrick enttarnt, zeigen, wie das Kaninchen in den Hut kam oder wieso eine Entscheidung abweichend von einer Mehrheitsmeinung getroffen wurde.

Öffentliche Debatten entstehen, Rücktritte werden gefordert, Entrüstung über das unerhörte Vorgehen. Einem amerikanischen Präsidenten, der Sex mit einer Praktikantin hatte, wurde dies in der lautstark geführten Debatte fast zum Verhängnis. Zwar war der gerichtliche Aspekt sein Meineid, aber dass es überhaupt zu diesem Wellengang kam lag an der Heimlichkeit der Aktion und der moralischen Erwartung, dass ein Präsident so etwas einfach nicht macht. Im Sinne der VIP-Menschen: Die Enttarnung eines Zauberers.

Ganz anders der Antritt von Donald Trump. Als ehemaliger Entertainer versucht er gar nicht, Dinge zu verbergen. Dass er mit einer Pornodarstellerin verkehrt und dafür Schweigegeld zahlt, ist allgemein bekannt. Zu keinem Zeitpunkt streitet er das ab, agiert ganz offen und stopft seinen Kritikern mit dem Hinweis auf Privatangelegenheiten und Best-Practice den Mund. Ein Entertainer eben, er unterhält die Wähler und setzt (zumindest an dieser Stelle) nicht auf Täuschung.

An diesen beiden Beispielen kann man zum einen die unterschiedlichen Typen erkennen, auch die aus vermeintlichen Verfehlungen abgeleiteten Reaktionen springen ins Auge. Erfolgreicher und ohne Angst vor Entdeckung und Shitstorm leben die Personen, die sich als Entertainer outen. Getreu dem Motto: Du bekommst was du siehst. Und wenn ich es mir anders überlege, bekommst du etwas anderes. Aber nichts passiert hinter deinem Rücken. Wer andererseits heimlich im Sinne eines Zauberers agiert, muss fortwährend mit Entdeckung und unangenehmem Zur-Rede-stellen rechnen. Und nicht zuletzt die Frage beantworten, warum er es nicht gleich gesagt hat.

Mittwoch, 13. November 2024

Herbstzeit - Recyclingzeit

Es ist Herbst geworden, kühl, neblig, feucht ist es draußen und ich nutze die kurze Zeit zwischen Feierabend und Einbruch der Dunkelheit, um den Bürgersteig vom Laub zu befreien. Die große Eiche hat reichlich Blätter abgeworfen, aber auch vom Kirschbaum und von den Hortensien sind ziemlich viele Blätter bis hierher geweht.

Die Natur kommt zur Ruhe, aus den Blättern werden die brauchbaren Inhaltsstoffe herausgeholt, dann abgeworfen. Langsam vertrocknend liegen sie auf der Straße und zerfallen bei Regen nach und nach zu Kompost. Im Garten bilden sie Laubhaufen und geben damit allerlei Kleinlebewesen bis hin zu Igeln eine schützende Möglichkeit zum Überwintern.

Beruhigend: Die Natur hat sich mal wieder ganz schön was einfallen lassen, damit auch das nicht mehr benötigte Blattwerk eine nützliche Funktion hat. Und wenn schon keine Aufgabe (Überwinterung) mehr wartet, dann wird eben ein neues Produkt (Kompost) daraus.

Herbstzeit - Recyclingzeit

Da sprechen wir in der Technik von Nachhaltigkeit, aber von dieser einfallsreichen Weiter- und Wiederbenutzung sind wir noch weit entfernt. Oft ist der Aufwand viel zu hoch, als dass sich ein Recycling oder Upcycling lohnen würde. Im Grunde kommt uns in die Quere, dass wir erst mal produzieren und erst in einem viel späteren Schritt darüber nachdenken, was wir mit dem gebrauchten Produkt anfangen könnten.

In jedes im Frühling entstehende Blatt ist schon der Keim für das Recycling gelegt. Selbst wenn es in der nächsten Saison zunächst als Igelhaufen Verwendung findet, ist es am Ende seiner Lebenszeit jedenfalls die Basis für die Entstehung von Erdreich.

Können wir bei der Herstellung eines Autos schon sagen, was nach einigen tausend Kilometern auf der Straße mal daraus wird? Oder auch nur bei einfachen Produkten in den Entstehungsprozess das Nachfolgeprodukt einplanen?

Da ist noch viel Platz für einfallsreiche Designer, Ingenieure, Wissenschaftler. Mit dem Einpreisen für die Entsorgung können wir auf Dauer nicht leben, es sei denn, wir investieren dieses Geld nicht in Müllverbrennung, sondern in Forschung für die Vervollständigung des Produktlebenszyklus. 

Heute schon an morgen denken heißt hier: Bei der Herstellung schon die Weiterverwendung einplanen. Und zwar vollständig, das heißt Berücksichtigung der Produkte, deren Zerlegung, Aufarbeitung, die hierfür notwendige Technik, Energie und entsprechende Ressourcen.

Mittwoch, 6. November 2024

Einkaufen oder Wählen

Ich stehe vor dem Verkaufsregal im Supermarkt. Auf den Einkaufszettel hat mir meine Frau noch „Vollwaschmittel“ aufgeschrieben, ein Produkt, das ich eher selten mitbringe. Also, mal sehen, was es im Angebot gibt. Auf Augenhöhe Artikel der bekannten Marken in verschiedenen Größen, weiter oben die Hausmarke und ganz unten irgendwelche White-Label-Waschmittel.

Aber nicht nur die Marke, auch die Frage nach Pulver oder Flüssigkeit beschäftigt mich. Was steht denn immer bei uns in der Waschküche? Was habe ich an Allgemeinwissen noch über Waschmittel im Hinterkopf und wie gut kann ich auf meine eigenen Erfahrungen aus der Studentenzeit zurückgreifen?

Ich drehe die Flaschen und Kartons um, lese, was auf der Rückseite steht und versuche meine Auswahl daran zu orientieren. Kombiniere mit Werbetexten, Aussagen von Freunden und Testberichten, die ich vor einiger Zeit mal in einem Magazin gelesen habe.

Und dann ist sie da, die Entscheidung. Ich nehme einfach das Teuerste. Da kann ich nicht viel falsch machen und muss mir hinterher keine fehlplatzierte Sparsamkeit vorwerfen lassen. Ich hebe das ausgewählte Flüssigwaschpulver in den Einkaufswagen und fahre gutgelaunt weiter.

Schaut man in ein paar Monaten in die Verkaufsstatistik wird man deutliche Trends feststellen. Flasche A wurde oft gekauft, Waschpulver B viel weniger, obwohl es in den Inhaltsstoffen sehr ähnlich und obendrein vegan ist.

Was ist da schiefgelaufen? Waren die Käufer einfach zu dumm oder uninformiert, war die Verpackung hübscher, die Werbung besser, oder ist tatsächlich eine Flüssigkeit gegenüber einem Pulver vorzuziehen? Umfragen könnten ein wenig Licht hineinbringen und für den zukünftigen Verkauf Änderungen empfehlen.

Einkaufen oder Wählen

Was, das erinnert an politische Wahlen, zum Beispiel in den USA? Gewiss, es gibt nur zwei „Produkte“ zur Auswahl, aber das Abwägen ist ähnlich. Denn auch in der Politik ist nicht unbedingt klar, was letztendlich zur Wahl des einen oder anderen Kandidaten geführt hat.

Jedenfalls spielen neben den „Inhaltsstoffen“ noch eine Reihe weiterer Faktoren eine ent-scheidende Rolle. Welche Meinung vertreten mir wichtige Zeitgenossen (Familie, Freunde, Influencer), was habe ich aus der Werbung mitgenommen, welche Erfahrungen habe ich bislang gemacht, welche Schwerpunkte setze ich?

Und so kommen beim Aufruf der Statistik (Auszählen der Stimmen) Ergebnisse heraus, die manche Kandidaten erfreut, andere entsetzt. Aber jeder Käufer bzw. Wähler hat nun mal einen eigenen Einkaufswagen, und mit welcher Auswahl er zur Kasse oder Wahlurne geht, ist seine Sache.

Er nimmt zwar mit seiner Stimme Einfluss auf das Ergebnis, aber er ist nicht „Schuld“. Vielmehr ist es Sache der Anbieter, möglichst viele Käufer bzw. Wähler „abzuholen“. Wem das besser gelingt, der hat gewonnen. Ganz wörtlich.

Dienstag, 29. Oktober 2024

Das können wir nicht verstehen

„Ich wähle Donald Trump.“ – „Ich wähle Kamala Harris.“ Ein engagiert geführter Disput in vielen amerikanischen Wohnzimmern. Bei manchen Familien nimmt er Formen von Glaubenskriegen an, Anhänger des einen oder der anderen zu sein ist mehr als eine Meinung, es ist die falsche Meinung.

Dabei ist es aus deutscher Sicht für viele Bürger sehr einfach. Es war schon nicht verständlich, wie Donald Trump im Jahr 2016 Präsident der Vereinigten Staaten werden konnte. Wie die Amerikaner nach den vier Jahren seiner damaligen Präsidentschaft nun ernsthaft eine erneute Wahl in Betracht ziehen.

Das können wir nicht verstehen

Aber an diesem prominenten Beispiel sehen wir die Notwendigkeit, auch Randbedingungen in unsere Urteile einzubeziehen. In deutscher Mentalität gibt es eine Parteienvielfalt, die ein durchschnittlicher Wähler nur mit Hilfe eines Wahl-o-mat sortiert bekommt. Der eine Meinungsvielfalt gewohnt ist, die in allen Facetten und Koalitionskonstellationen ausgehandelt wird. Da wirkt es befremdlich, wenn die Wahl auf zwei Kandidaten reduziert ist, die oft im Laufe ihrer Karriere Schauspieler oder Entertainer waren.

Selbst wenn ein Teil Deutscher die amerikanische Denkweise, deren Kultur und Verhalten nicht durchdringt: Wir müssen mit der Entscheidung und dem Wahlergebnis dieser Bevölkerung leben. Als Bürger in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung gehört es unbedingt dazu, Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren, auch wenn man anderer Meinung ist oder sie schlichtweg nicht nachvollziehen kann.

Was für uns im politischen Umfeld mehr oder weniger selbstverständlich ist, kommt uns in Alltag und Berufsleben auf einmal merkwürdig vor. Da wird die Entscheidung von Experten in Frage gestellt, vehement auf der eigenen doch viel besser recherchierten Sicht bestanden. Doch selbst wenn die eigene Darstellung gut begründet und im persönlichen Kontext korrekt ist, kann sie in anderem Kontext unvollständig oder sogar verkehrt sein.

„Wie kann man auch nur auf den Gedanken kommen, Donald Trump zu wählen“, mag mancher Deutscher denken. Aber Tatsache ist, dass Donald Trump und Kamala Harris derzeit Kopf an Kopf liegen, Donald Trump also rund 80 Millionen Wähler hinter sich versammelt. Es wäre absurd, so viele Menschen alle als uninformiert oder gar blöde abzustempeln.

Gerade beim Gespräch mit intelligenten Zeitgenossen erlebe ich immer wieder, dass sie ihre durchdachte und wohlbegründete Sicht einer Situation als das Maß der Dinge betrachten. Eine abweichende Meinung wird sehr deutlich mit dem Hinweis auf mangelnde Information, fehlendes Verständnis oder sogar fehlenden Intellekt zurückgewiesen.

Das mag im Einzelfall sogar stimmen, oft aber auch nicht. Einem angemessenen Urteil können wir uns nämlich erst nähern, wenn wir die Gegenseite möglichst gut verstanden haben. Bei den Wahlen in den USA ist es deren Mentalität, bei Geschäftspartnern geht es um deren komplettes Umfeld, ihre Stakeholder, Rolle, Ausbildung und so weiter.

Nur eine Reihe von uns bewusst oder unbewusst ausgewählten Argumente zu betrachten, ist erheblich zu punktuell und führt geradezu zwangsläufig zu einer Fehleinschätzung. Oder anders ausgedrückt ist in vielen Fällen nicht die Meinung verkehrt, sondern unser Verständnis von ihr. Und manchmal müssen wir akzeptieren, dass wir sie einfach nicht verstehen (können).

Mittwoch, 23. Oktober 2024

Raus aus der Komfortzone, rein in die Komfortzone

Ein paar Tage im Jahr verbringen die meisten Angestellten im Urlaub. Da geht es dann mehr oder weniger weit weg, wird gezeltet, gewandert, ein Wohnmobil herausgeholt oder ein Hotel aufgesucht. Und ein merklicher Teil der Urlauber sucht dabei auch so etwas wie Komfort. Das mag bei dem einen so aussehen, dass er sich das Frühstück nicht selbst machen muss, beim anderen ein Badezimmer mit Whirlpool oder ein attraktiver Wellnessbereich.

Jedenfalls ist der Komfort gewollt, kostet Geld und bereitet hoffentlich Freude. Umso mehr wundert es mich, wenn mich Mitmenschen anregen, ich solle meine Komfortzone verlassen. Eine Aufforderung, die gerade in allerlei Seminaren regelmäßig auf der Tagesordnung steht. Dann sitzen alle im Kreis, diskutieren lebhaft die Chancen und sind sich einig, dass jeder diese böse Komfortzone verlassen muss.

Raus aus der Komfortzone
Warum eigentlich? Ich fühle mich da sehr wohl, was ist denn falsch daran, dass ich nicht dauernd an einem etablierten Prozess herumschraube. Der Grundgedanke mag ja stimmen, im Sinne kontinuierliche Entwicklung ist ein Verharren hinderlich. Aber wenn sich etwas bewährt hat, dann muss man nicht Bewegung um der Bewegung willen ansetzen.

Ich plädiere dafür, den Komfort als solchen wahrzunehmen (im Urlaub wie im Alltag) und zu genießen. Auf dieser Basis schafft man sich (im Urlaub wie im Alltag) ein wenig Erholung und kann Kraft sammeln, um neue Herausforderungen anzugehen. Die Kunst besteht darin, sozusagen auch (arbeits-)täglich innerlich Komfort zu haben, statt sich durch unnötige Veränderungen fortlaufend unter Anspannung zu halten.

Rein in die Komfortzone des Alltags also, und aus dieser sicheren und eine stabile Basis bildenden Position heraus agieren. Mal ein bisschen Bewegung hier, mal ein wenig Veränderung da. Aber nie das ausgeglichene Moment verlassen.

Mittwoch, 16. Oktober 2024

Netzwerke(n)

Bei Netzwerken denken ältere Personen vielleicht an Fischer, jüngere an Austausch mit anderen Menschen und technisch Orientierte an Datenverbindungen von Computern. Was diesen Assoziationen gemein ist, ist der Aspekt des Netzes. Die meist kreuzweise Verknüpfung unterschiedlicher Stränge, seien es Seile, Aufgabenbereiche oder Datenleitungen. Und stets gibt es Knoten, mal als ineinandergeschlungene Seile, mal als Plattform bzw. Treffpunkt oder in Form von Routern.

Netzwerke

In jedem Fall sind diese Konstruktionen für ein funktionierendes System notwendig. Ein Fischer ohne Netz kann bestenfalls noch mit der Angel arbeiten, ein Angestellter sich als Einzelkämpfer beweisen und Computer ohne Austausch, Informationsversorgung und Internet arbeiten. Grundsätzlich möglich, aber in den meisten Fällen eher schwierig.

Bleiben wir mal bei den persönlichen oder technischen Netzwerken. Da werden also Daten ausgetauscht, Beziehungen aufgebaut und Kooperationen begründet. Im technischen Umfeld wissen wir den Austausch zu schätzen, können ohne Probleme auf große Distanzen kommunizieren, einkaufen, planen, recherchieren. Aber nicht alle Informationen sind korrekt, nicht jeder Einkauf seriös und nicht jede Planung valide. Schlimmer noch, hier lauern Betrüger, versuchen uns über den Tisch zu ziehen, vertrauliche Daten zu ergattern oder unsere Technik mit Viren zu infizieren.

Hackerangriffe, Phishingversuche, virenverseuchte Dokumente und Malware allenthalben. Ohne diese dunkle Seite bräuchten wir keine Firewalls, Virenscanner, IT-Security und Awareness-Kampagnen. Aber in der Realität sehen wir, dass wir uns schützen müssen, was technisches Know-How erfordert, Geld kostet und unsere Computer dauerhaft mit Aufpassen beschäftigt.

Ist das im menschlichen Umfeld des Netzwerkens eigentlich anders? Natürlich nicht. Auch hier ist die gute Seite unentbehrlich. Wir lernen andere Personen kennen, sprechen mit ihnen, bilden temporäre Teams und geben uns gegenseitig Tipps. Doch auch hier ist in der ersten Stufe nicht jede Kooperation erfolgreich, nicht jeder Tipp wirklich gut. Und in der zweiten Stufe sind auch hier Menschen, die es nicht so gut mit uns meinen, wie sie vorgeben. Sei es, dass sie fragwürdige Geschäfte mit uns abschließen, heimlich ein ganz anderes Ziel verfolgen und uns ausnutzen oder auch versuchen, gezielt vertrauliche Informationen zu bekommen.

Wo sind sie den, die Virenscanner bei den Gesprächen, die Firewalls im Meeting und die IT-Security, die uns vor Angriffen schützt? Einzig die Awareness-Kampagnen, die gibt es schon immer. "Trau, schau wem" ist eine alte Weisheit, die aber in Zeiten der modernen Kommunikation und dem Netzwerken via Internet über Nachbarschafts-Klön hinweg immer wichtiger wird. Was ich am Gartenzaun oder in der Warteschlange vor der Bäckerei erzähle orientiert sich auch am Need-to-know-Prinzip, bei der Diskussion von Wetterdaten und den letzten Fussballspielen kann ich nicht viel falsch machen.

Doch beim beruflichen Umfeld wird es schwieriger. Wie bei den Daten im Computer-Netzwerk will man bei Fachgesprächen nicht alles unterbinden, sondern setzt darauf, relevante Details zu besprechen ohne Betriebsgeheimnisse Preis zu geben. Die schwierige Balance zwischen Smalltalk, für die gemeinsamen Ziele erforderliche Information und Verrat von vertraulichen Daten. Hier schützt uns keine Technik, die möglicherweise sehr geschickten Angriffe und Techniken zum Erforschen unseres Wissensstandes erfordert einen wachen Geist. Der leider gelegentlich durch nicht uneigennützig angebotenen Veranstaltungen mit einem gewissen Alkoholanteil merklich schlafen gelegt wird.

Mittwoch, 9. Oktober 2024

Lernen vom Sprachelernen

Vermutlich so alt wie die Menschheit ist der Versuch, sich miteinander zu verständigen, Kommunikation zu betreiben. Schon sehr früh spielen Laute, aber auch Bilder eine wichtige Rolle beim Austausch. Und nicht zuletzt regional bedingt bildeten sich im Laufe der Zeit verschiedene Kulturen aus, die sich jeweils in einer eigenen (Bild-)Sprache unterscheiden. Nun sind diese Sprachen nicht nur leicht unterschiedlich, betonen einen Buchstaben anders oder verschieben hier und da mal einen Konsonanten. Das würde man vielleicht Dialekt oder Mundart nennen. Nein, in der Praxis sind die Sprachen massiv unterschiedlich; Sowohl das Vokabular, also die Bezeichnung für einzelne Gegenstände oder Sachverhalte, als auch die Grammatik unterscheiden sich gewaltig.

Zur Überbrückung dieser Schwierigkeiten gibt es Übersetzer, Übertrager und bei entsprechendem Bedarf müssen wir uns mit der anderen Sprache beschäftigen. Sei es, dass wir sie in der Schule "lernen", sei es, dass wir uns im späteren Alltag zu einem Austausch befähigen müssen. Wir alle wissen, wie mühsam dieser Prozess sein kann, da gilt es, sich Vokabeln einzuprägen, Grammatik zu pauken und vielleicht sogar noch Schriftzeichen einzuüben.

Ganz anders bei der Muttersprache. Weder verabreichen wir einem Kleinkind ein Vokabelheft noch geben wir ihm syntaktische Regeln mit. Es lernt durch Zuhören, Nachplappern, Korrekturen. Schritt für Schritt. Das Gehirn extrahiert bei jedem gehörten Satz die Struktur und merkt sich die Regelmäßigkeit, so dass im selben Arbeitsgang gleichzeitig die Wort-Ding-Zuordnung und auch die Beugung der Wörter sowie Satzaufbau, -stellung und sonstige grammatikalische Details aufgenommen werden. Durch tausendfache Wiederholung erwachsen daraus Wortschatz und Sprachsicherheit.

Lernen vom Sprachelernen
Im Grunde ist es erstaunlich, dass heutige Lehrmethoden in der Schule diesen Lernvorgang immer noch zerlegen. Da wird separat ein Vokabelheft geführt, daneben liegt eine Grammatik und die einzige Verbindung ist dann ein Lehrbuch, das im besten Fall immerhin bebildert ist. Ich hatte vergessen zu erwähnen, dass gerade Bilder, aber auch das Anfassen der gerade neu gelernten Gegenstände eine wichtige Rolle beim Lernprozess spielen. Wer ein Ei in die Hand nimmt und dabei das zugehörige Wort lernt kann es sich viel besser merken. Unser Denkapparat ist nämlich ein Assoziationsspeicher und legt in diesem Moment den haptischen Eindruck, den Lautverlauf von "Ei", den optischen Eindruck, das Objekt und seinen sprachlichen Kontext ab.

Wir lernen aber noch mehr. Um am Beispiel Ei zu bleiben ergänzen wir mehr oder weniger zügig noch die Eigenschaften dieses Gegenstandes. Er ist zerbrechlich, ist essbar, wobei wir auch verschiedene Formen des Garens kennenlernen können, er kommt von Hühnern und wird von diesen gelegt. Ein frisch gelegtes Ei riecht neutral, das innere ist eine glibberige Masse. Etcetera.

All diese Eigenschaften lernen wir im natürlichen Umfeld als komplexe Kombination. Wenn die Mutter sagt "lass das Ei nicht fallen, sonst ist es kaputt" haben wir nicht nur eine Anweisung bekommen, sondern auch das Wort für das Ding gelernt. Und da wir es sehen können wissen wir auch beispielhaft über sein Aussehen Bescheid, fassen es ja gerade an (sonst wäre die Mahnung zur Vorsicht sinnlos), riechen es unwillkürlich und haben erfahren, dass es unter Krafteinwirkung irreversibel kaputt geht.

Es gibt also keine "Tabelle" in der alle uns bislang kennengelernten Gegenstände aufgeführt und mit Eigenschaften angereichert werden. In mehrdimensionaler Ablagestruktur werden n:m-Beziehungen aufgebaut, man kann die Attribute des Eis genauso abfragen wie andererseits eine Gruppierung nach Eigenschaften (zum Beispiel mit der Eigenschaft zerbrechlich) verschiedener Dinge vornehmen. Und natürlich Ähnlichkeiten abbilden (was hat noch diese Form), Ranglisten erstellen (was ist noch zerbrechlicher als ein Ei) und die verschiedenen Ausprägungen (Hühnerei, Straußenei etc.) ins Verhältnis setzen.

Eine Sprache zu lernen ist also kein isoliertes Vorhaben, es ist eng verknüpft mit Impulsen aus verschiedenen Disziplinen und Sinnen. Da wundert es nicht, dass das Ergebnis stark von der Kultur abhängt, denn auch diese ist ein Einflussfaktor, der unser Lernen und unsere Aufnahme von Wissen beeinflusst. Ob bewusstes Lernen als Wert geschätzt wird oder nur als Mittel zum Zweck dient, ist dabei genauso wichtig wie der Reichtum der angebotenen Reize.

So entwickelt sich Sprache und damit das Lernen einer Fremdsprache natürlich am besten, wenn es hierfür eine Motivation gibt und es obendrein eine möglichst große Vielfalt an Input gibt. Sicher liegt es zu einem merklichen Teil am jungen und wissensdurstigen Gehirn von Kleinkindern, wenn die Zweisprachigkeit recht leicht und aufwandsarm entsteht. Aber es hat ebenfalls etwas damit zu tun, dass beide Sprachen typischerweise nicht als Pauken, sondern als Erlebnis verschiedener Sinneseindrücke aufgenommen werden.

Wer auch als älterer Mensch eine weitere Sprache erlernen möchte, der hat besonders gute Chancen, wenn er dabei auf ein Ziel hinarbeitet, sich zum Beispiel mit seiner Geliebten verständigen können will. Und dazu keinen Volkshochschulkurs besucht, sondern sich mutig in die Alltagskommunikation stürzt.

Diese ganze Überlegung und die daraus abgeleitete Empfehlung ist durchaus nicht neu und kann beispielsweise bei der Methode von Vera F. Birkenbihl nachgelesen werden. Aber ich möchte an dieser Stelle die Allgemeingültigkeit betonen. Denn alles, was ich gerade über das Erlernen einer Sprache ausgeführt habe, gilt natürlich auch für ausnahmslos alle anderen Lerngebiete. Die Beschäftigung mit einer neuen Datenbanktechnologie ist nicht unbedingt griffig (im wörtlichen Sinne) und fällt uns deshalb von Natur aus schwerer als die Schulung einer sportlichen Geschicklichkeit. Umso wichtiger ist es, bei abstrakten Themen Bilder anzubieten und Analogien zu anfassbaren und damit be-greiflichen Dingen vorzustellen.

Mittwoch, 2. Oktober 2024

Zufällige Bilder, Chaos und Weiterverwendung

Es gibt eine Maltechnik, bei der Acrylfarben mit einem Medium versehen werden, dabei eindicken und sich als zähe Masse auf der Leinwand in allerlei zufälligen Strukturen ausbreiten. Heraus kommen farbenfrohe Bilder mit schwungvollen Trennlinien zwischen den einzelnen Farbtönen, je nach anfertigendem Künstler mit einer Prise Gold oder vereinzelten Blasen angereichert.

Zufällige Bilder, Chaos, Weiterverwendung, Pouring
Betrachtet man diese Werke, dann kann man sich in phantasievoller Betrachtung allerlei Figuren vorstellen, die sich in dem Bild sozusagen versteckt zu haben scheinen. Wer des Pinsels mächtig ist, kann diese Figuren nun herausarbeiten, hier ein Gesicht auch für andere Betrachter erkennbar machen, dort einen Baum oder einen See, vielleicht ein paar Engelsflügel. Wer die Gestaltung des ursprünglichen Pouring vollumfänglich kontrollieren will, wird allerdings nicht weit kommen. Es ist ja gerade der Sinn dieser Technik, dass eine gewisse Zufälligkeit mitspielt.

Wir haben es im physikalischen Sinn mit einem komplexen System zu tun, hochgradig nichtlinear und deshalb nicht vorherbestimmbar. Auch im prozessualen Sinne würde man Pouring eher in die Rubrik Zukunftsaussagen nach der Methode des Bleigießens einordnen. Jeder Manager, der sich diese wunderschönen, aber eben auch zufälligen Gebilde anschaut oder sogar mal selbst herstellt wird einsehen, dass er damit keine vorher festgelegte Gestalt oder gar ein Porträt anfertigen kann.

Als wäre es eine andere Welt, versuchen wir aber gerade im nichtkünstlerischen Umfeld genau das. Da werden Prozesse designed, Kundenreaktionen modelliert oder Marktprognosen entwickelt, als wären die Acrylfarben auf der Palette und der Werkschaffende hätte einen Pinsel in der Hand. Doch genau das hat er nicht. Vielmehr sind die Zutaten (Acrylfarben) zwar präzise definiert, doch spätestens durch Einbringen in ein Umfeld (Pouring-Medium) ist der finale Farbverlauf nicht mehr zuverlässig kontrollierbar.

Eine gewisse Hilfe ist das Verständnis, dass es sich um ein komplexes oder tendenziell sogar chaotisches System handelt. Hierzu gibt es per Definition keine geschlossene Lösung, sondern nur ein iteratives Herantasten an eine Lösung. Und daneben die Option, das Beste daraus zu machen. Das ist analog zum Ausmalen des Pouring-Bildes durch den Künstler zu sehen. Haben wir ein mehr oder weniger zufällig entstandenes System vorliegen ist es der Kreativität der Prozessgestalter und Manager überlassen, hierin die relevanten Punkte zu betonen (auszumalen) und so zu einem attraktiven Zustand zu führen.

Mittwoch, 25. September 2024

Parieren – oder: Kann ein Bär Gedanken lesen?

Heinrich von Kleist beschreibt in den Berliner Abendblättern (Über das Marionettentheater) eine Szene, in der der Erzähler zum Fechten gegen einen Bären antritt. Dabei erlebt er eine Überraschung:

Nicht bloß, daß der Bär, wie der erste Fechter der Welt, alle meine Stöße parirte; auf Finten (was ihm kein Fechter der Welt nachmacht) gieng er gar nicht einmal ein: Aug’ in Auge, als ob er meine Seele darin lesen könnte, stand er, die Tatze schlagfertig erhoben, und wenn meine Stöße nicht ernsthaft gemeint waren, so rührte er sich nicht.

Kann ein Bär also in die Zukunft sehen oder Gedanken erraten? Tatsächlich nicht, die Ursache liegt an einer anderen Stelle. Wenn wir bei der Bewegung schon den Rückzug einplanen, verlagern wir unser Gleichgewicht anders, wir dürfen es nicht in Richtung Bär verschieben, denn sonst würden wir uns ja im Endeffekt auf ihn zu bewegen. Da wir aber nur auf ihn zu und direkt wieder zurückweichen wollen, muss unser Schwerpunkt sozusagen hinten bleiben. Und genau das kann man von außen sehen, kann der Bär für die Ernsthaftigkeit unseres Angriffs interpretieren.

Nun wird kaum jemand von uns regelmäßig mit Bären kämpfen und es ist auch eher unüblich, dass in Bürogebäuden mit dem Florett gefochten wird. Aber auch in der Kommunikation oder allgemein im Umgang miteinander finden wir dieses Phänomen wieder. Und wir kennen hierfür den Begriff der Schlagfertigkeit. Wir sind Schlag-fertig, Schlag-bereit, Schlag-willig. Wer nur mal vorsichtig kitzeln möchte, der ist nicht schlagfertig und muss sich nicht wundern, dass der Bär gegenüber uns nicht ernst nimmt und nicht von der Stelle bewegt.

Die innere Einstellung, eine Finte, einen Scheinangriff oder einen wirklich (eingeleiteten) Angriff kann man bei sorgfältiger Betrachtung unterscheiden. Egal ob körperlich oder verbal.

Quintessenz: Wenn man zuverlässig seinen Gegenspieler bewegen will, dann muss man auch von innen heraus angriffsbereit sein. Plagen uns Skrupel oder wollen wir einen Kampf eigentlich vermeiden, wird ein entsprechend sensibler Gegner dies registrieren und die Attacke als harmloses Scheingefecht abtun. Andererseits muss man aber als potentiell Angegriffener sorgfältig beobachten, ob der Gegner wirklich auf uns losgeht oder nur aus seiner Position heraus mit den Fäusten wackelt.

Mittwoch, 18. September 2024

Die universelle Sprache

Schon seit Jahrtausenden gibt es immer wieder den Antritt, eine universelle Sprache für alle Menschen anzubieten, zumindest für eine möglichst große Fraktion. Esperanto ist so ein Konstrukt, das aber nie so richtig in der offiziellen Praxis angekommen ist. Jetzt scheinen wir der Sache aber ein gutes Stück näher gekommen zu sein. Und der Erfinder dieser Universalsprache scheint aus Schweden zu kommen. Oft kopiert doch nie erreicht wird hier ein Hybrid von Landessprache und Universalkommunikation etabliert.

Wer schon mal ein Möbelstück von Ikea zusammengebaut hat weiß, was ich meine. Man findet einerseits Sicherheitshinweise in 24 Sprachen auf festklebenden Etiketten, deren Entfernung entweder viel Zeit kostet oder nach rund 10 weggerubbelten Sprachen frustriert abgebrochen wird. Und die eigentliche Aufbauanleitung kennt dann gar keine Texte, vielmehr Zeichnungen, Nummern, Strichmännchen, Pfeile und Satzzeichen. Mal ein Ausrufezeichen zur Betonung der Wichtigkeit, mal ein Pfeil zur Markierung des betroffenen Bauelementes, mal ein Strichmännchen mit Glühbirne über dem Kopf für eine zu gewinnende Erkenntnis.

Das ist sie, habe ich spontan gedacht. Das ist die universelle Sprache, die wir uns doch alle erträumt haben. Auf der ganzen Welt kann man die Zeichnung einer Bodenplatte und einer Seitenwand mit Pfeilen, ermunterndem Strichmännchen, Nummerierungen und Reihenfolgen eindeutig interpretieren. Ob Chinese oder Ostfriese: Erst die Dübel in die Bodenplatte stecken, dann die Zapfen der Seitenwand in die Exzenter einführen. Doch halt! So einfach ist es eben doch nicht. Manche Zeichnungen sind für Laien genauso wenig eindeutig wie ein mit Fachbegriffen und Beschlagsbezeichnungen gefüllter Text. Anders formuliert: Auch in der universellen Sprache der Piktogramme und Zeichen kann man nuscheln oder deutlich sprechen.

Und so hat sich leider die grundsätzliche Idee der Wissensvermittlung mit Strichzeichnungen schon weit verbreitet, die bildsprachliche Qualität aber nicht unbedingt weiterentwickelt. Ein schönes Beispiel einer unverständlichen Bilddarstellung fand ich vor ein paar Tagen als Aufdruck auf meinem Staubsauger. Es bleibt offen oder zumindest großer Interpretationsspielraum, was mit dem Bild gemeint sein könnte. Wie stets trifft auch hier die Empfehlung zu, dass man seinen Text, sein Bild, sein Produkt erst mal bei unvorbereiteten Rezipienten testen sollte.

Dienstag, 10. September 2024

Vorher-Spüler und Nachher-Spüler

Ein Freund von mir hat ein ganz spezielles Charaktermodell entworfen. Er unterteilt die Menschheit in Vorher-Spüler und Nachher-Spüler. Stellen wir uns vor, wir wollten ein Abendessen bereiten, stehen in die Küche und treffen zunächst auf einen hohen Berg ungespültes Geschirr, noch restgefüllte Kopftöpfe, verdreckte Pfannen und und gebrauchte Gläser. Ungerührt geben wir uns erst mal an die Reinigung der Utensilien, vielleicht auch nur der für die Bereitung notwendigen, und beginnen begleitend mit dem Kochen. Vor dem Servieren sind Geschirr und Besteck bereit, die verwendeten Töpfe vom Herd auf die Ablagefläche verschoben.

Die andere Fraktion der Menschen holt das blanke Topfwerk aus dem Schrank, kocht darin, spült noch während der Zubereitung die nicht mehr benötigten Pfannen und hinterlässt die Küche pünktlich zum Servieren in aufgeräumtem Zustand. Das sind die Nachher-Spüler; wenn sie ihren Arbeitsplatz verlassen ist alles in arbeitsbereitem Zustand, wer anschließend hier tätig werden muss kann sofort loslegen.

Vorher-Spüler und Nachher-Spüler

Beide Herangehensweisen haben ihre spezifischen Vor- und Nachteile. Und lassen sich sogar zu einem gewissen Grad kombinieren. Das kann situationsbezogen sein, zum Beispiel wenn Gäste kommen, das kann rezeptbezogen sein, zum Beispiel wenn man Suppe kocht. Oder abhängig von den Randbedingungen, wenn man zum Beispiel eine Spülhilfe hat.

Aber grundsätzlich bietet das Zusammenkommen dieser unterschiedlichen Typen Konfliktpotential. Beide Seiten vertreten ihre gewohnte Manier vermutlich recht vehement und denken gar nicht daran, das aus ihrer Sicht bewährte Verfahren zu ändern. Da fühlen sich die Nachher-Spüler übervorteilt, weil sie die Küche ja gereinigt hinterlassen und von den Vorher-Spülern (die ja in diesem Fall keine Arbeit haben) ein Durcheinander hinterlassen bekommen. Während die einen also doppelte Arbeit haben, können sich die anderen auf den eigentlichen Job - das Bereiten der Malzeit - konzentrieren.

Das kommt einem doch bekannt vor, mehr oder weniger ausgeprägt gibt es diese Aufteilung doch auch im Arbeitsumfeld. Gebe ich die Rohdaten weiter (Vorher-Spüler) und lasse sie von dem Abnehmer filtern, sortieren, aufbereiten, prüfen oder sind die relevanten Informationen bereits aufbereitet, geeignet formatiert und damit sofort weiterverwendbar (Nachher-Spüler)?

Entscheidender Unterschied ist die Frage, wie die Arbeit an den Übergabepunkten (Schnittstellen) vorliegt. Solange der gesamte Ablauf aus einem Typus (seien es Vorher-Spüler oder Nachher-Spüler) besteht, ist es in der Regel kein Problem. Kritisch wird es, wenn der Typ wechselt und insbesondere, wenn ein Nachher-Spüler die Arbeit von einem Vorher-Spüler übernimmt.

In der Praxis stellt man fest, dass es selten reine Ausprägungen gibt. Aber jedenfalls lohnt es sich, nicht nur die Prozessschritte, deren Notwendigkeit und Reihenfolge zu betrachten, sondern sich auch Gedanken über die Qualität an den Übergabe- oder Nahtstellen zu machen. Und bei der Formierung von Teams darauf zu achten, dass die Nachher-Spüler nicht unter den Vorher-Spülern leiden.

Mittwoch, 4. September 2024

Laufen, kämpfen oder wegrennen?

Wenn man an die Fortbewegung auf unseren zwei Beinen denkt, dann kommt man schnell vom Stolzieren über das Gehen zum Laufen. Doch warum laufen wir eigentlich? Das kann bei genauerer Betrachtung eine Reihe von Gründen haben.

Da ist erst mal die reine Freude an der Bewegung. Zu viel Zeit auf dem Sofa, am Schreibtisch, im Auto oder überhaupt sitzend zu verbringend ist langweilig. Wie gut tut es da, sich mal zu bewegen, die Beine zu „vertreten“. Oder man geht als Erlebnis spazieren oder joggt durch den Wald, weil die Luft frisch ist und man in der morgendlichen Dämmerung allerlei scheue Tiere zu Gesicht bekommt. Es gibt kein explizites Ziel, keine Zeitvorgaben, bestenfalls eine „Runde“, die man vor dem Frühstück dreht.

Das geht nahtlos in die Rubrik Wettkampf über. Man will mit dem Laufen ein bestimmtes Ziel erreichen. Sei es, dass man eine bestimmte Zeit unterschreiten will, sei es, dass man eine gewünschte Fitness anpeilt. Oder sich für einen Vergleich mit anderen Läufern vorbereitet.

Laufen kann aber auch erforderlich sein, weil man selbst- oder fremdverschuldet seinen Zielpunkt sonst nicht zur vorgesehenen Uhrzeit erreicht. Vielleicht bin ich zu spät dran und muss im Laufschritt zum Bahnhof, um den Zug noch zu erreichen. Das ist dann ein erzwungener Lauf, den ich je nach Situation einlegen muss.

Ebenfalls erzwungen, aber nicht ausgelöst durch einen Fahrplan, ist das Weglaufen. Ich muss oder möchte einem Verfolger entkommen, ich will einen Ort möglichst schnell verlassen oder einen anderen möglichst schnell erreichen. Da geht es nicht um Freiwilligkeit, auch der sportliche Aspekt ist ausschließlich indirekt enthalten. Die Motivation liegt irgendwo zwischen wünschenswert und lebenswichtig.

Laufen, Kämpfen, Wegrennen

Mal ein übertragender Blick auf die tägliche Arbeit. An den meisten Tagen durchwandern wir den Tag, aber manchmal verfallen wir auch in Laufschritt. Ist es ein innerer oder äußerer Antritt, der uns beschleunigen lässt, oder haben wir einfach Lust, mehr oder schneller mit der Arbeit umzugehen?

Viele Führungskräfte sind tatsächlich begeisterte Läufer, setzen sich selbst mehr oder weniger ehrgeizige Ziele und verfolgen diese mit viel Engagement. Aus deren eigenen Einschätzung der Motivation für Laufen sind sie dann der Ansicht, mit den Mitarbeitern umgehen zu können, als wäre ein Stadtmarathon zu bewältigen. Dabei laufen manche Mitarbeiter nun mal nicht für eine Medaille, sondern für die Rehe und Füchse, die sie bei Sonnenaufgang treffen.

Wettkampf und die Aussicht auf Gewinnen und Medaillen, das will ich damit sagen, ist für den einen oder anderen ein starker Anreiz. Aber es gibt daneben noch eine Vielzahl anderer Motivatoren. Dazu kann man mal in die verschiedenen Auslöser für das Laufen und Joggen am Anfang des Artikels schauen und sie auf die Tätigkeit im Unternehmen übertragen.

Und daneben ist auch stets die Frage, ob wir überhaupt laufen müssen oder wollen. Man kann ja mal notgedrungen zum Zug spurten, aber am nächsten Tag sollte man dann einfach ein paar Minuten früher aufstehen (oder was auch immer zu diesem Umstand geführt hat). Abgeleitet vom Analogon mit dem Laufen kann man also neben der Betrachtung der Motivationsaspekte auch über Auslöser, Prozessverbesserungen und Änderung der Start- oder Randbedingungen nachdenken.

Mittwoch, 21. August 2024

Ihr müsst es dreimal sagen

ChatGPT muss es schon vor über 200 Jahren gegeben haben, denn im Original von Goethes erster Veröffentlichung von „Faust“ finden wir folgende Passage:

Faust: Es klopft? Herein! Wer will mich wieder plagen?
Mephistopheles: Ich bin's.
Faust: Herein!
Mephistopheles: Du mußt es dreimal sagen.
Faust: Herein denn!
Mephistopheles: So gefällst du mir.

Ihr müsst es dreimal sagen

In die heutige Zeit übertragen hört sich der Dialog so an:
Ich: Wie lautet das Tastaturkürzel, um innerhalb einer Outlook-Mail zu suchen?
ChatGPT: Verwende  Strg-F oder F4, um das Suchfeld zu öffnen.
Ich: Das funktioniert leider nicht.
ChatGPT: Entschuldigung für die Verwirrung. Das Suchfeld öffnet sich mit Strg-E. Um innerhalb einer E-Mail zu suchen verwende F3 oder Strg-H.
Ich: Das scheint immer noch nicht korrekt.
ChatGPT: Entschuldigung für die Verwirrung. Das erweiterte Suchfeld erreichst du mit Strg-Umschalt-F. Für die einfache Suche drückst du F4 oder Strg-F (wenn sich das Suchfeld öffnet und nicht die Weiterleitung aktiviert wird). In einigen Fällen könnte auch Strg-B funktionieren.

Man muss also dreimal fragen, um sich der richtigen Antwort zu nähern. Hier ist keine absichtliche Irreführung eingeschaltet, es gibt auch keine politischen Gründe, die zu den (zunächst) falschen Antworten führen. Nein, der Assistent wurde schlichtweg falsch angelernt. Und was noch schlimmer ist, er verkündet seine Meinung mit überzeugender Darstellung.

Was man in diesem Fall sehr einfach nachprüfen kann, erweist sich an anderen Stellen als deutliches Problem. Naheliegend, dass man im offenen Bereich des Internets nicht gerade lebenswichtige Empfehlungen von diesem Roboter holen sollte. Aber selbst weniger kritische Themen sind nur mit äußerster Vorsicht zu genießen.

Um auf die Einleitung zurückzukommen sind wir alle gefährdet, einem Mephistopheles zu folgen, mehr oder weniger rauschende Feste in Auerbachs Keller zu feiern, am Ende dann aber voller Ernüchterung des Pudels Kern zu entdecken.

Mittwoch, 14. August 2024

Das Mantra der Selbstorganisation

Im Zusammenhang mit erfolgreicher Teamarbeit wird gerne der Aspekt der Selbstorganisation genannt. Das scheint der Schlüssel zu sein, um aus einer Zusammenstellung von Arbeitskräften die maximale Arbeitsleistung herauszuholen. Da wird nichts von außen vorgegeben, nur die Aufgabe genannt und ab dann passiert – plopp, magic – ein Automatismus, der zu allgemeinem Wohlbefinden führt.

Das Mantra der Selbstorganisation
Ist das so? Und warum scheitern dann Konzepte wie Kommunen und WGs oft an genau diesem Paradigma? In einer idealen Vorstellung findet jedes Mitglied einer Gemeinschaft genau die Aufgabe, die es gerne und engagiert erledigen kann. Die ihm kein anderer streitig macht, weil nur er hierfür die perfekte Besetzung ist.

Und ein weiterer elementarer Aspekt ist die Vollständigkeit der Abdeckung. Wird jede nun mal zu erledigende Tätigkeit von mindestens einer Person erledigt, dann sind alle Vorgänge gut zugeordnet. Was aber tun, wenn es lästige Sachen gibt, die keiner machen möchte. Im technischen Umfeld könnte das das Schreiben von Dokumentationen oder die Ausführung von Tests sein. In der WG ist es die Reinigung der Wohnung.

Menschlich normal gibt es aber auch unterschiedlich leistungsfähige Mitarbeiter, ja, und in der Praxis müssen wir natürlich auch die Faulpelze und Drückeberger im Auge behalten. Ist es nicht ziemlich naiv anzunehmen, dass sich solche Charaktere freiwillig und selbstständig Arbeit suchen und einen Teil der Aufgaben übernehmen?

Unter bestimmten Voraussetzungen kann Selbstorganisation funktionieren. Wenn wir ein Team aus leistungsbereiten Performern haben. Mit Flexibilität bezüglich der Aufteilung. Mit der Bereitschaft, zumindest anteilig auch die ungeliebten Aufgaben zu erledigen. Mit Rücksicht auf die Belange und Möglichkeiten der Anderen. In jedem Fall aber mit einem gewissen von außen vorgegebenen Rahmen, zum Beispiel hinsichtlich Ziel, Zeitrahmen, Ressourcen und Budget.

Man kann auch mal einen Blick auf die kleinsten Teams werfen, die Partnerschaft von zwei Menschen. Schon hier ist die Aufteilung oft eine mehr oder weniger ungelöste Herausforderung, die mit regelmäßigem Streit, wenig tragfähigen Kompromissen und Unzufriedenheit einhergeht. Da mag man sich schon fragen, warum es in betrieblichen Abläufen, Softwareprogrammierung oder Sachbearbeitung besser laufen sollte.

Was aber geht, und das ist die gute Nachricht, ist das Anfertigen einer Aufstellung der Kompetenzen der einzelnen Teammitglieder. Und dann erst mal diese Qualitäten nutzen, danach die verbleibenden Jobs verteilen und so eine Mischung aus mache-ich-gerne und unterstütze –ich-das-Team erreichen, die von einem merklichen Teil der Zusammenarbeitenden akzeptiert wird.

Mittwoch, 31. Juli 2024

Agilität ist natürlich

Agilität ist natürlich
Ein Kernelement agilen Vorgehens ist das Ausprobieren, Heranarbeiten an die bestmögliche Lösung durch kleine Schritte und Schauen, ob dieser kleine Schritt in die richtige Richtung ging. Das macht uns die Natur schon seit Millionen von Jahren vor und wir nennen es Evolution. Kleine Abweichung vom Standard, dann wird es spannend, ob sich diese Modifikation behauptet. Durch diese Miniveränderungen in der Entwicklung kommt mit jeder Generation eine ein klein wenig andere Ausprägung auf die Welt. Das beobachten wir beispielsweise in der Anthropologie der Menschheit, aber auch im Entstehen und Aussterben ganzer Populationen.

Auf deutlich kleinerer Zeitskala spielt in diesem Entwicklungsprozess auch die Pubertät eine wichtige Rolle. Wir probieren aus, was wir machen können, loten die persönlichen Möglichkeiten aus und - ganz wichtig in dieser Lebensphase: wir manövrieren uns durch Trial-and-Error in unser Ich. Partnersuche spielt eine bedeutende Rolle, Nachwuchs entsteht und bildet die nächste Generation.

Ein besonderes Auge hatte ich auf Angela geworfen. Meine Gedanken kreisten nur noch darum, wie ich mit ihr zusammen kommen könnte. Schließlich erfüllte sie alle Wünsche, die ich an eine Freundin hatte. Mit ihren dunklen Augen wirkte sie immer sehr nachdenklich, hatte herrlich fließende Bewegungen und über ihren schlanken Beinen einen knackigen Po. Alle Jungs wurden unruhig, wenn sie in der Nähe war und heimlich wurde darüber spekuliert, wie sich ihr Busen anfühlte.

An diese Traumfrau heranzukommen war eine Herausforderung, zumal die Konkurrenz sich auch alle erdenkliche Mühe gab. Lud sie der eine Mitschüler zum Eis essen ein, versuchte der andere sie mit seinen sportlichen Leistungen zu beeindrucken. Hausaufgaben wurden gemeinsam erledigt, Mutproben vor ihren Augen veranstaltet und in der Klasse eine gewisse Aufmüpfigkeit an den Tag gelegt. Und jedes Mal spielte es eine Rolle, wie Angela reagierte, welcher der zahlreichen Verehrer von ihrer Seite den Zuschlag erhielt.

Erfolgreich war am Ende dann ein Junge, der sie nach all der intensiven Anmache seitens der anderen Buben durch eine merkliche Hartnäckigkeit und einfallsreiche Variation seiner Annährung für sich gewinnen konnte. Im Nachhinein betrachtet näherte er sich in kleinen Schritten, probierte mal dies, mal jenes und blieb immer am Ball, auch wenn mal etwas nicht funktionierte. Ein Vorgehen, das wir doch auch bei Agilität im technischen Umfeld immer wieder propagieren und gegenüber den Kunden wählen sollen.

Agilität ist also älter als die Menschheit, eher so alt wie das Universum und damit in uns und unserer Art schlichtweg angelegt. Die Adaption und Anwendung auf den Umgang mit Kunden, die Verfolgung dieses Antritts bei der Projektierung von Vorhaben oder Strukturierung von Umsetzungen liegt also nicht nur nahe, sondern ist schlicht in uns verankert. Ach ja, und der für manche Erwachsene für Agilität erforderliche Mut, das Einlassen auf Neues, das Zulassen von Fehlern, das haben wir beim Kennenlernen von Partnerinnen oder Partnern doch schon gehabt. Also einfach mal denken, man wollte einen attraktiven Mitmenschen begeistern und auch im Projektalltag alle (Agilitäts-)Register ziehen.

Mittwoch, 24. Juli 2024

Ehen und sonstige Versicherungen

Bei genauer Betrachtung haben menschliche Ehen und Versicherungen viele Gemeinsamkeiten. In Kurzform ein paar Parallelen, die zum Nachdenken anregen. So kann man seine eigene Beziehung an etabliertem Vorgehen von Versicherungen orientieren oder andersherum als Anbieter von Policen aus den Abläufen in Ehen lernen.

Der Einfachheit halber habe ich mir 10 Phasen angeschaut und die Bezeichnungen gegeneinandergehalten.

Ehenund sonstige Versicherungen
  1. Kennenlernen / Werbung
    Hier spielen äußere Faktoren eine Rolle, zum Beispiel Plattformen, Bewertungen, Orte mit hohem Flirtfaktor und so weiter.
  2. Annährung / Akquise
    Ist ein erster Kontakt zu Stand gekommen, heißt es nachlegen und die beiden Seiten für einander zu interessieren.
  3. Freundschaft / Probephase
    Nun wird ausprobiert, ob der erste Eindruck stimmt. Passen die Partner zusammen, ist das Versicherungsprodukt geeignet?
  4. Hochzeit / Vertragsabschluss
    An dieser Stelle wird es verbindlich.
  5. Hochzeitstag / Bestandspflege
    Während der Ehe bzw. Laufzeit der Versicherung ist eine gewisse Aufmerksamkeit für die Gegenseite wichtig für die dauerhafte Zufriedenheit. Jahrestage oder gelegentliche Kundenanschreiben sorgen für die Erhöhung der Treue
  6. Bedürftigkeit / Schadensfall
    Ist ein Partner aus irgendeinem Grund auf den anderen angewiesen, dann zeigt sich, wie stabil die Gemeinschaft ist. Entspricht dem Umgang im Leistungsfall.
  7. Fremdgehen / Leistungsstörung
    Wird das Versprechen nicht gehalten, dann ist der Vertrag einseitig verletzt. In der Beziehung ist es der Seitensprung, bei Versicherungen entweder Zahlungsaussetzer oder mangelhafte Zahlung im Leistungsfall.
  8. Eheberatung / Vertragsumstellung
    Retten, was zu retten ist. Ursachen erforschen, neue Wege finden.
  9. Scheidung / Kündigung
    Wenn die Nachbesserung fehlschlägt, wird meistens der Vertrag gekündigt, was im Falle der Ehe als Scheidung bezeichnet wird.
  10. Tod / Vertragsablauf
    Das reguläre Ende.

Mittwoch, 17. Juli 2024

Die Gelassenheit des Sommers

Die Gelassenheit des Sommers
Regen läuft die Scheibe herunter – mal wieder. Mittlerweile ist Juli, seit Monaten gibt es keine zusammenhängende Trockenperiode. Bestenfalls ist mal ein regenfreier Tag zwischen den wolkenverhangenen und wasserreichen Phasen. Und das, obwohl ich dieses Jahr einige Arbeiten im Garten erledigen wollte.

Auf das Wetter habe ich keinen Einfluss, die Arbeiten müssen warten. Und selbst wenn es mal vorübergehend keinen Niederschlag gibt, muss ja die Erde erst mal ein wenig trocknen und der notwendige Handwerker ist auch nicht kurzfristig zu bekommen. Das Gartenprojekt muss also warten, ob mir das nun gefällt oder nicht.

Natürlich könnte ich jetzt überall jammern und klagen, das würde aber die Situation nicht verändern. Und bezüglich Wetter ist auch ein Umplanen nicht möglich. Niemand weiß, wann die ergiebigen Wassermassen endlich ein Ende finden und man nach Trocknung und Organisation der Handwerker anfangen kann. Ob es mir gefällt oder nicht: Ein neuer Termin ist partout nicht festzulegen.

Das ist eine Situation, die man nur mit Gelassenheit angemessen behandeln kann. Gerade dieser Begriff der Gelassenheit, des Zulassens, der Akzeptanz eines nicht beeinflussbaren Zustandes ist hier zentral. Man kann sich nicht dagegen stemmen, es gibt auch bezüglich der Wetterentwicklung keine Alternativwege, weitere Planung ist nicht sinnvoll.

Was wir beim Wetter mehr oder weniger zähneknirschend akzeptieren, wollen wir in anderen – auch betrieblichen – Situationen nicht wahrhaben. „Es muss doch irgendwie gehen“, scheint die Maxime zu sein. Und wenn es dann eben nicht geht, wird die Suche nach einem Schuldigen eingeleitet, der pro forma die Verantwortung übernehmen muss und sanktioniert wird.

Gerade mir ist an manchen Stellen ein lapidares „geht nicht“ ein absolutes Ärgernis. Energie in die Suche nach Alternativen zu stecken wird gar nicht in Betracht gezogen, und wenn überhaupt, dann nur recht zurückhaltend. Das ist nicht der Sinn der Sache; Engagiertes Abklopfen aller denkbaren Lösungen, Bewertung und möglichst Umsetzung sollten im Mittelpunkt stehen. Aber wenn sich selbst nach sorgfältiger Betrachtung – analog zum Wetter – herausstellt, dass man einfach nichts machen kann, dann muss man es lassen. Ge-lassen.

Mittwoch, 10. Juli 2024

Die Krux mit der Messung

Auf halber Strecke nach Frankfurt zweigt eine kleine Bahnlinie ab. Die Schienen sehen recht rostig aus, aber das Gleisbett ist freigeschnitten und grundsätzlich könnte es sein, dass hier noch Züge fahren. Vor ein paar Tagen kam ich mit dem Fahrrad an der Stelle vorbei und entschloss mich spontan, den Radweg entlang der Linie zu nehmen. Tatsächlich gibt es kurz nach dem Abzweig einen Bahnsteig, kein Bahnhofsgebäude, aber immerhin eine Plattform, an der ein Zug halten und die Fahrgäste ein- und aussteigen können.

Ich stieg ab, schaute mir das Wartehäuschen an, kein Aushangfahrplan, nur eine notdürftig überdachte Bank. Nichts deutete darauf hin, dass hier ein Zug fahren könnte. Ich schaute auf die Uhr, kurz vor zwölf, Zeit für eine Mittagsstation. Mit ein paar Handgriffen hatte ich den Rucksack vom Gepäckträger auf die Bank gestellt, packte mein Picknick aus und setzte mich auf die Bank.

Den schönen Ausblick genießend entschloss ich mich, diese Zwischenstation nun zukünftig in meine Radtouren zu integrieren. Und so war dieses Wartehäuschen in den Sommermonaten mein stetes Ziel auf den ansonsten wechselnenden Ausflügen. Ende September waren mal die Pflanzen rund um meine Bank geschnitten, das Unkraut entfernt. Ansonsten passierte nichts, insbesondere habe ich keinen Zug gesehen.

Nach und nach verfestigte sich meine Überzeugung, dass es sich um eine stillgelegte Bahnstrecke handelte. Hier fuhr offensichtlich nie ein Zug. Bestimmt hatte die Deutsche Bahn die Strecke nicht mehr in Gebrauch, musste aber aus irgendwelchen formalen Gründen die Pflege fortsetzen. Eigentlich schön, dass auch diese Teile der Infrastruktur in Schuss gehalten wurden, obwohl sie nicht mehr in Betrieb sind.

Die Krux mit der Messung
Doch meine Gedanken zur Nutzung der Strecke waren falsch, wie ich bei einer Radtour an einem spätherbstlichen Werktag feststellte. Ich hatte ein paar Tage Urlaub genommen, wie gewohnt mein Rad aus der Garage geholt und saß - diesmal noch früher Morgen - wieder auf meiner Aussichtsbank. Und da hörte ich von Ferne einen Zug kommen, eine schwere Diesellokomotive schleppte einen kurzen Zug mit wenigen Wagons diese Nebenstrecke entlang. Zu meiner Überraschung hielt sie sogar an der Plattform an und ein paar Personen stiegen aus.

Vielleicht konnten sie meinen fragenden Gesichtsausdruck sehen, jedenfalls sprach mich ein älterer Mann an. Wir kamen kurz ins Gespräch und ich erfuhr, dass diese Strecke täglich für Berufstätige befahren wurde, jeweils morgens und abends drei Züge im Stundentakt. Das erklärte natürlich, warum die Schienen freigeschnitten waren und bei sorgfältiger Betrachtung hätte mir möglicherweise sogar das niedergetretene Kraut rund um das Wartehäuschen verdächtig sein können. Aber ich war im Laufe der Monate so von der Stilllegung überzeugt, dass ich meine Einschätzung gar nicht mehr in Frage gestellt hatte.

Ich verabschiedete mich von dem weitereilenden Mann, setzte mich wieder auf die Bank und schaute dem davonschnaufenden Zug hinterher. Irgendwie bemerkenswert, dachte ich, zum einen, weil ich bestimmt auch in anderen Situationen nach einiger Zeit mein Urteil nicht mehr in Frage stelle. Sei es bezüglich gekaufter Produkte, Abläufen oder auch Mitmenschen und Beziehungen. Und zum anderen, wie krass ich mit der Folgerung, hier führe überhaupt nie ein Zug daneben gelegen hatte. Ausgehend von eigentlich punktuellen Messungen hatte ich in unzulässiger Weise verallgemeinert. Auch das ein Phänomen, das mir im Alltag immer wieder unterkommt. Mal erwächst hieraus ein unangemessenes Vertrauen, mal stelle ich eine Leistung in Frage, weil ich unbemerkt stets im selben falschen Moment hinschaue.

Messungen sind also immer so eine Sache. Es kommt nicht nur auf die Präzision und die gemessenen Werte an, sondern mindestens genauso wichtig auf die Randbedingungen wie zum Beispiel den Zeitpunkt oder die Perspektive. Nur weil man immer wieder dasselbe feststellt muss es deswegen keine Konstante sein.

Mittwoch, 3. Juli 2024

Erfindungen zu ihrer Zeit

In meiner Studentenzeit habe ich in weinseliger Stimmung mit einem Freund mal ein ESP für Koffer entworfen. Damals waren die Koffer ziemlich schmal, hatten an der kurzen Seite zwei Räder und waren entsprechend kipplig. Was also lag näher, als das bei Autos bewährte Prinzip des Elektronischen Stabilitäts Programms auf den Koffer zu übertragen. Wir wollten die Schräglage des Koffers mit Sensoren messen und ab einem bestimmten Winkel das eine oder das andere Rad sanft bremsen, um so den Koffer über das Einleiten einer leichten Kurve wieder in die aufrechte Position zu bekommen.

Man könnte dieses Prinzip in der heutigen Zeit noch mit Künstlicher Intelligenz ausstatten, die notwendigen Steuerimpulse der Radbremsen der Fahrsituation anpassen, die Kofferbeladung bestimmen und überhaupt aus den Systemreaktionen lernen lassen.

Erfindungen zu ihrer Zeit

Doch was macht irgendein anderer findiger Mensch? Er schraubt statt der bisher zwei Rädchen gleich vier unter den Koffer. Keine Sensoren, keine Elektronik, keine KI und doch ist die Gefahr des Kippens erheblich verringert. Bringt man jetzt noch den Griff so an, dass man die breite Seite zieht, ist ein Umkippen praktisch ausgeschlossen.

Was ist geschehen? Wir hatten einen schönen Abend, haben uns prima amüsiert und in immer verrückteren Details mit dem Problem beschäftigt. Dabei aber nur in eine Richtung gedacht, nämlich den seinerzeit marktüblichen Standard genommen und optimiert. Was fehlte war die Abstraktion, das Abwenden von der mehr oder weniger oberflächlichen Behandlung der Symptome.

Wir hätten zum Beispiel überlegen können, was Kippen im technischen Sinne heißt und wie man es beheben kann. Über Betrachtung des Schwerpunktes, seiner Bewegung und deren Beeinflussung hätte sich vielleicht die Montage weiterer (rollbarer) Unterstützungspunkte ergeben. Alternativ hätten wir (unter Alkoholeinfluss vielleicht sogar noch besser) drauflos phantasieren können, die beiden Reifen in Gedanken abgeschraubt, einen fliegenden Teppich montiert und schließlich beim quergezogenen Vierräderer landen können.

Natürlich, das erleben wir ja immer wieder: Entwicklungen überholen sich, mit einer automatischen Tränke für Pferdekutschen könnte man heutzutage keine Begeisterung mehr hervorrufen. Und ebenso hätten wir vor 40 Jahren vielleicht noch ein Koffer-ESP verkaufen können, heute würde man uns ungläubig anschauen.

Aber neben dem Zahn der Zeit geschuldeten Vergänglichkeit von Entwicklungen entdecke ich immer wieder Neuerungen, die absehbar schon deshalb eine kurze Halbwertszeit haben, weil sie nur Symptome bearbeiten, statt der Ursache auf den Grund zu gehen.

Anmerkung in dieser Sache: Die derzeit viel propagierte Allmacht der Künstlichen Intelligenz heilt in vielen Anwendungsfeldern auch nur Symptome, angefangen bei mangelhafter Datenqualität über Probleme mit der Bereitstellung bis hin zu Schludrigkeit in der Datenauswertung. Und unterstützt an vielen Stellen marode Prozesse, die nach gehöriger Optimierung auch ohne KI flutschen würden.

Mittwoch, 26. Juni 2024

Verzweifelte Suche nach der Wahrheit

Verzweifelte Suche nach der Wahrheit
Bei mir im Badezimmer steht eine Wetterstation, die mir auch die Luftfeuchtigkeit anzeigt. Und daneben im Moment noch ein kleines Hygrometer, das ich gerne mal in den Koffer packe, um auch am Urlaubsort die Feuchtigkeit ablesen zu können. Beide haben also derzeit dieselbe Position und müssten deshalb grundsätzlich auch gleiche Werte anzeigen. Doch das ist nicht der Fall. Tatsächlich weichen die Messwerte deutlich voneinander ab. Welcher stimmt denn jetzt?

Schauen wir mal genauer hin, was sich aus den unterschiedlichen Ergebnissen ableiten lässt. Halten wir zunächst fest, dass die Luftfeuchtigkeit nur einen bestimmten Wert haben kann, also keiner Auslegung oder Diskussion unterworfen ist.

Fall 1: Eines der Messinstrumente zeigt den richtigen Wert an. Nur: Welches? Ist es die Wetterstation oder die mobile Variante?

Fall 2: Beide streuen um den richtigen Wert, dann könnte man sich diesem durch Mittelwertbildung nähern.

Fall 3: Beide zeigen (nahezu) identische Werte, aber dieser stimmt nicht.

Fall 4: Beide zeigen (nahezu) identische Werte und stimmen mit dem tatsächlichen Wert überein.

Fall 5: Wir nehmen ein weiteres Messinstrument dazu, dessen Anzeige z. B. der Wetterstation entspricht. Das heißt aber nicht, dass dieser Wert stimmt (siehe Fall 3)

Schon dieses simple Beispiel zeigt, wie schwierig es ist, die "Wahrheit" herauszufinden. Dass man aus einer Informationsquelle nur in recht speziellen Fällen (bei Messinstrumenten würde man es als Eichung bezeichnen) die Realität herausbekommt, liegt auf der Hand. Aber selbst eine zweite Quelle als Ergänzung hilft nicht unbedingt weiter. Immer noch befinden wir uns bei den gerade beschriebenen Fällen. Menschlich nutzen wir in Fall 1 Argumente wie Verlässlichkeit oder Vertrauen, aber das sind eher gefühlte als belastbare Faktoren. Besonders trügerisch ist Fall 3, denn hier urteilen wir aus einer Art Demokratieverständnis grundlegend falsch.

Nun sind wir im täglichen Leben - insbesondere bei Nachrichten - mit sehr vielen Informationsquellen konfrontiert. Und aus diesen vielen Quellen die eine (oder wenige) richtige gemäß Fall 1 herauszufinden ist nahezu unmöglich. Wie zu erwarten setzen wir auf Fall 2, fordern Beweise für die präsentierte Darstellung und führen im Kopf eine Art Durchschnittsbestimmung aus. Aber nur weil eine Mehrheit eine bestimmte Meinung vertritt muss sie ja nicht richtig sein. Und zusätzlich bilden wir uns eine Meinung ohne zu erkennen, dass sie von der Konstruktion her auf einer Statistik beruht; die von Natur aus eine Verteilungsfunktion ist und damit durchaus auch Aussagen links und rechts vom Maximum der Verteilungskurve kennt.

Heißt: Wenn es schon schwierig ist, die tatsächliche Luftfeuchtigkeit in meinem Badezimmer zu bestimmen, wie soll man dann in den Gemengelagen der Nachrichtenportale eine belastbare Aussage treffen? Hier fließen neben den berichteten Fakten noch ganz wichtig Themen wie Vertrauen, wenn irgendwie möglich Belege und schließlich möglichst viele Perspektiven eine Rolle.

Und noch weiter: Erweitern wir den Blick von Nachrichten auf Informationen im Privat- oder Berufsleben, die wir als Basis für Entscheidungen nutzen. Auch hier sind die Messmöglichkeiten (Einschätzung der Fachleute) ähnlich schwierig zu verwenden wie im Falle der Luftfeuchtigkeit. Wir müssen damit leben, dass wir in der Praxis nur höchst selten Fall 4 (korrekte Anzeige / Beratung) bekommen.

Diese Erkenntnis ist sicher unbefriedigend, entspricht aber der Realität. Die Forderung nach „richtigen“ Nachrichten und zutreffenden Bewertungen ist unrealistisch. Wir können die Datenbasis nur bedingt verbessern und müssen zwingend mit der diskutierten Unsicherheit leben.